Wird das zivilisatorische Netz, dass sich die Menschheit in ihrer Geschichte gewebt hat (wie für diese Fliege im Spinnennetz), zu ihrer eigenen Todesfalle? Foto: Imago/Panthermedia

Hat sich die Menschheit in eine Sackgasse manövriert? Gibt es aus den vielen Krisen, die wir derzeit erleben, noch ein Entkommen? Oder ist es für eine Kehrtwende bereits zu spät? Eine neue Studie ist diesen existenziellen Fragen nachgegangen.

Die Menschheit läuft Gefahr, sich selbst in ihrer Entwicklung in Sackgassen zu manövrieren, aus der es kaum noch ein Entrinnen gibt. Insgesamt 14 solcher Evolutionärer Fallen haben schwedische Forscher in einer neuen Studie ausgemacht. Darunter sind Klima-Kipppunkte und Umweltverschmutzung genauso wie eine falsch ausgerichtete künstliche Intelligenz und die Beschleunigung von Infektionskrankheiten.

Menschheit in der Falle

Wenn sich Merkmale, die für die Evolution einer Gattung einst vorteilhaft waren, sich aufgrund von Umweltveränderungen plötzlich nachteilig auswirken, spricht man von einer Evolutionären Falle oder Evolutionären Diskrepanz. Dieses evolutionsbiologische Konzept wird auch als Mismatch-Theorie bezeichnet (s. Info).

Die Studie ist im Fachmagazin „Philosophical Transactions of the Royal Society B“ unter dem Titel „Evolution of the polycrisis: Anthropocene traps that challenge global sustainability“ veröffentlicht.

Wird die Polykrise zur Todesfalle?

Verseuchung der Ökosysteme: Metallurgische Industrie in Russland. Foto: Imago/Zoonar
Offenen Wunden der Natur: Samotlor-Ölfeld bei Nischnewartowsk in Westsibirien. Foto: Imago/Pemax

Das Forscherteam um den Umweltökologen Peter Søgaard Jørgensen sieht solche evolutionäre Fallen auch für die Menschheit gegeben. Insgesamt sei ihre soziokulturelle und zivilisatorische Evolution eine „außergewöhnliche Erfolgsgeschichte“, deren Ergebnis das Anthropozän darstelle – also das Erdzeitalter des Menschen –, wie es in der Untersuchung heißt.

Doch das Anthropozän zeige Risse: Globale Krisen wie Covid-19-Pandemie, Klimawandel, Ernährungsunsicherheit, Finanzkrisen und Konflikte hätten begonnen, gleichzeitig aufzutreten. Dieses Phänomen wird auch als Polykrise bezeichnet.

„Der Mensch als Spezies ist unglaublich kreativ. Wir sind in der Lage, innovativ zu sein und uns an viele Umstände anzupassen, und wir können in erstaunlich großem Umfang kooperieren“, schreibt Peter Søgaard Jørgensen. Doch diese positiven Eigenschaften hätten ungewollte Folgen. „Einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass die menschliche Spezies zu erfolgreich und in gewisser Weise zu klug für ihr eigenes zukünftiges Wohlergehen ist.“

Belastungsgrenzen überschritten, Kipppunkte erreicht

Vergiftetes Wasser: verschmutzter Fluss in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Foto: Imago/aal.Foto
Verpestete Luft: morgendlicher Berufsverkehr auf dem Delhi-Gurugram-Expressway in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Foto: Imago/Hindustan Times

Für die Studie wurden in den Jahren 2020 bis 2022 Seminare, Workshops und Umfragen am Stockholm Resilience Centre durchgeführt, in deren Verlauf Prozesse des Anthropozäns identifiziert, ein gemeinsames Verständnis evolutionärer Dynamiken geschaffen und potenzielle Sackgassen eruiert wurden.

Insgesamt wurden in der Bestandsaufnahme 14 evolutionäre Fallen ausfindig gemacht und als global, technologisch oder strukturell kategorisiert. Dazu gehören unter anderem die Vereinfachung der Landwirtschaft, ein Wirtschaftswachstum ohne Vorteile für Mensch und Umwelt, die Instabilität der globalen Zusammenarbeit, Klimakipppunkte und künstliche Intelligenz.

Grüne Revolution – eine Sackgasse

Gestörtes Wachstum: Ohne den Humus des Lebens, den Erdboden, würde keine Pflanzen gedeihen, würden weder Tier noch Mensch Nahrung finden, wäre kein Leben möglich. Foto: dpa
Verseuchte Böden: massiver Pestizideinsatz im indischen Punjab. Foto: Imago/Jörg Böthling

Exemplarisch gehen die Stockholmer Autoren auf die Vereinfachung der Landwirtschaft als Falle ein – eigentlich ein Erfolg der Menschheit. Dank der sogenannten Grünen Revolution stieg die globale Nahrungsmittelproduktion zwischen 1965 und 1997 um etwa 60 Prozent. Dies war das Ergebnis der Entwicklung moderner landwirtschaftlicher Hochleistungs- und Hochertragssorten, die erfolgreich auch in den Entwicklungsländern verbreitet wurden.

Die Konzentration auf einzelne hochproduktive Pflanzen mache das Nahrungsmittelsystem immer anfälliger für Umweltveränderungen wie Wetterextreme oder neue Pflanzenkrankheiten, schreiben die Forscher. Auch die Gentechnik dürfte nur ein Teil der Lösung sein, um die Krise zu entschärfen.

Evolutionäre Fallen verstärken sich gegenseitig

Extreme Dürre: ausgetrockneter Rio Negro bei der brasilianischen Stadt Manaus im Amazonas. Foto: Imago/Fotoarena
Ein Junge steht am Ufer eines ölverschmutzten Baches in der Nähe von Goi in Nigeria. Foto: ANP/EPA/dpa/Marten Van Dijl

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Der Einfluss von Klima-Kipppunkten zeigt am Beispiel der Nahrungsmittelproduktion zudem, wie sich evolutionären Fallen gegenseitig verstärken können – also reziprok sind. Wenn Gesellschaften in einer Sackgasse steckenblieben, sei es wahrscheinlicher, dass sie dies auch in anderen Sackgassen tun.

Die Wissenschaftler betonen, dass 12 der 14 Fallen bereits in fortgeschrittenem Stadium seien. Das bedeutet: Es wird zunehmend schwierig, sich noch daraus zu befreien. Die beiden weniger fortgeschrittenen Sackgassen sind demnach die Autonomie der Technologie (Künstliche Intelligenz und Robotik) und der Verlust von Sozialkapital durch Digitalisierung.

„Die evolutionären Kräfte, die das Anthropozän geschaffen haben, funktionieren nicht gut auf globaler Ebene“, erklärt Mitautorin Lan Wang-Erlandsson. In den heutigen globalen Systemen entstünden soziale und ökologische Probleme an Orten, die für die Gesellschaften, die sie verhindern könnten, weit entfernt schienen. „Außerdem erfordert ihre Bewältigung oft eine globale Zusammenarbeit auf einer Ebene, mit der viele evolutionäre Kräfte nicht gut zurechtkommen.“

Wahl zwischen Scheitern und Wandel

Neues Leben: Grasschösslinge wachsen auf verbrannter Erde zwischen verkohlten Baumstämmen nach einem Waldbrand im Jasper National Park (Bundestaat Alberta in  Kanada).  Foto: Imago//Imagebroker
Ist das die Zukunft? Erdkugel auf ausgetrocknetem Boden mit dem Schriftzug Klimawandel: Foto: Imago/Christian Ohde

Trotz der düsteren Bestandsaufnahme sehen die Forschenden die Menschheit nicht zwingend zum Scheitern verurteilt. Allerdings seien aktive und gravierende Veränderungen nötig. „Es ist an der Zeit, dass wir Menschen uns der neuen Realität bewusst werden und uns als Spezies gemeinsam dorthin bewegen, wo wir hinwollen“, erklärt Søgaard Jørgensen.

„Unsere Kreativität, unsere Innovationskraft und unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit geben uns die perfekten Werkzeuge an die Hand, um unsere Zukunft aktiv zu gestalten“, so der Ökologe. Wir können aus Sackgassen und dem Business-as-usual ausbrechen, aber dazu müssen wir die Fähigkeit zum kollektiven menschlichen Handeln fördern und ein Umfeld schaffen, in dem es sich entfalten kann.“

Info: Mismatch-Theorie

Diskrepanz
Der Begriff Evolutionäre Falle oder Evolutionäre Diskrepanz wird in der Evolutionsbiologie auch als Mismatch-Theorie bezeichnet. Damit ist Folgendes gemeint: Merkmale, die sich in der Evolution herausgebildet und für die Entwicklung einer Spezies als vorteilhaft erwiesen haben, können sich aufgrund von veränderten und zu schnell sich wandelnden Umweltbedingungen als negativ herausstellen und den Entwicklungsprozess der Gattung behindern - und im Extremfall beenden. Dies kann beim Mensch und bei Tieren stattfinden und wird oft auf schnelle Umweltveränderungen zurückgeführt. Die Mismatch-Theorie beschäftigt sich folglich mit der Idee, dass Merkmale, die sich in einem Organismus in einer bestimmten Umwelt entwickelt haben, in einer anderen Umgebung nachteilig sein können.

„Acht Todsünden“
Einer der Hauptvertreter dieser Theorie ist der österreichische Zoologe und Medizin-Nobelpreisträger von 1973, Konrad Lorenz (1903-1989). In seinem Buch „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ aus dem Jahr 1973 untersucht der Verhaltensbiologe jene Vorgänge, die nach seiner Ansicht zur "Dehumanisierung der Menschheit" beitragen. Diese acht Prozesse sind: (1) Überbevölkerung, (2) Verwüstung des natürlichen Lebensraums, (3) übermäßige Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse, (4) Drang zu sofortiger Befriedigung aller Bedürfnisse (Hedonismus), (5) genetischer Verfall wegen des Wegfalls der natürlichen Auslese, (6) Verlust bewährter Traditionen, (7) zunehmende Indoktrinierbarkeit, (8) Kernwaffen.