Noch im Oktober diesen Jahres war es in Stuttgart teilweise heiß wie im Sommer. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Die „Klimazentrale“ ordnet das aktuelle Stuttgart-Wetter ein. Sie zeigt, welche Folgen der Klimawandel in Stuttgart hat. Ein vorläufiges Fazit in fünf Kapiteln.

Die „Klimazentrale“ vergleicht das aktuelle Stuttgart-Wetter mit dem, was die heutige Eltern- und Großelterngeneration in ihrer Jugend kennengelernt hat. Das Datenprojekt unserer Redaktion zeigt so, wie sich der Klimawandel heute auswirkt. Nach anderthalb Jahren ziehen wir ein Zwischenfazit: Was haben wir gelernt? Was ist am Wetter überhaupt noch normal?

1. Klimawandel vor der Haustür?

Wetter ist nicht Klimawandel. Doch der dauerhafte Blick aufs Wetter kann das Gefühl dafür schärfen, dass sich im Laufe der Zeit sehr wohl etwas verändert. Wir vergleichen die aktuellen Werte mit dem, was zwischen 1961 und 1990 sowie 1991 und 2020 üblich war. Allein im Jahr 2023 verzeichneten 18 von 34 unserer regelmäßigen Berichte ungewöhnlich hohe Temperaturen, nur sieben Mal war von ungewöhnlich kühlem Wetter die Rede.

Fast jeder zweite Tag seit Beginn des „Klimazentrale“-Projekts am 18. Mai 2022 war ungewöhnlich warm, wenn man die Jahre 1961 bis 1990 als Maßstab nimmt. Gerade einmal sechs Prozent waren zu kühl. Das zeigen Messungen des Deutschen Wetterdienstes auf dem Schnarrenberg. Selbst wenn man die schon vom Klimawandel beeinflussten Jahre 1991 bis 2020 betrachtet, war seit Mai 2022 immer noch jeder dritte Tag zu warm und nur jeder achte zu kühl.

Bei den Niederschlägen ist das Bild ausgewogener, gleichwohl haben die schon im Juni verdorrten Grünflächen viele Stuttgarter alarmiert.

2. Jeder Sommer ist auf andere Weise extrem

2022 erlebte Stuttgart einen regelrechten Hitzesommer mit 30 Grad schon Mitte Mai und wiederholten 35 Grad und mehr. Solche Temperaturen kamen in früheren Jahrzehnten nur selten vor, überraschen mittlerweile aber niemanden mehr. 2022 zeigte sich auch in Stuttgart, was die Warnungen vor längeren und häufigeren Hitzewellen konkret bedeuten.

Der Sommer 2023 fühlte sich zwar weniger heiß an. Dennoch wurden in der Innenstadt 33 Tage mit 30 Grad oder mehr gezählt, dazu 102 mit mindestens 25 Grad – jeweils gut die Hälfte mehr als zwischen 1991 und 2020 üblich.

Die sommerlichen Temperaturen zogen sich weit in den Herbst hinein. Das macht 2023 in Stuttgart zu einem außergewöhnlich warmen Jahr. Weltweit dürfte es das wärmste seit Aufzeichnungsbeginn werden.

3. Stuttgart muss sich anpassen

Mitten im Hitzesommer 2022 fällte der Gemeinderat die Entscheidung, Stuttgart bereits bis 2035 klimaneutral machen zu wollen – der symbolische Zeitpunkt zeigt, wie sich das Bewusstsein verschoben hat.

Wie wappnen sich Städte gegen die Hitze? Stuttgart arbeitet an einem Hitzeaktionsplan, um gefährdete Menschen zu schützen. Der Stadtklimatologe Rainer Kapp wirbt für die „Schwammstadt“ mit mehr Grünpflanzen und Sickermöglichkeiten für Starkregen. Und seit dem vergangenen Jahr sucht der Hitzebus besonders gefährdete Gruppen auf, wenn es heiß wird im Kessel.

4. Was normal ist, verschiebt sich

Die Klimazentrale betrachtet den Normalbereich – also die Temperaturen, die an einem bestimmten Tag typischerweise zu erwarten sind. Dieser Normalbereich hat sich verschoben: In den vergangenen dreißig Jahren lag er an rund 300 Tagen im Jahr über dem, was noch bis 1990 als normal gelten konnte.

Entsprechend hat sich auch das Hitzeempfinden verändert. Im Juni 1977 etwa schrieb die Stuttgarter Zeitung anlässlich einer Höchsttemperatur von 28 Grad noch von „Überhitzung“. Darauf käme heute wohl niemand mehr.

Hin zu kühleren Temperaturen hat sich der Normalbereich nur an einzelnen Tagen verschoben - in den Übergangsmonaten, wenn das Wetter ohnehin stark schwankt. Besonders konstant ist die Verschiebung hin zu höheren Temperaturen im Sommer, über weite Teile des Frühjahrs hinweg – und auch im Winter. Auch in der kälteren Jahreszeit werden Wärmerekorde geknackt: Mit T-Shirt-Wetter zum Jahreswechsel 2022/2023 oder knapp 30 Grad im Oktober 2023.

5. Die Wahrnehmung deckt sich nicht immer mit den Daten

Ob es gerade zu warm oder zu kalt, zu nass oder zu trocken ist, spüren Menschen, wenn sie aus dem Haus treten. Nicht immer passt dieses Gefühl zu den Daten. Dass etwa das Frühjahr 2023 zu kühl war, bestätigt der langjährige Vergleich nicht: In der Monatsbetrachtung war nur der April insgesamt deutlich zu kühl und zu feucht, dazu einzelne Tage zum Jahresanfang ungewöhnlich kalt. In der Jugendzeit der aktuellen Eltern- oder Großelterngenerationen wäre das Frühjahr 2023 dagegen als völlig erwartbar und normal durchgegangen.

Erst die Datenanalyse macht solche Verschiebungen sichtbar, auch und gerade vor Ort. „Wir erinnern uns nicht an Normwerte oder an das Wetter als eine unabhängige Größe“, sagt die Psychologin Anika Heck. Man solle nicht unterschätzen, wie stark neue Realitäten wie stärkere Hitze das eigene Leben betreffen.

Für die „Klimazentrale“ analysieren wir auch weiterhin das Wetter – online sowie in der Zeitung. Die „Klimazentrale“ mit Daten für die gesamte Region Stuttgart finden Sie hier.

Projekt „Klimazentrale“

Projekt
Mit der „Klimazentrale“ zeigen wir für alle Orte in der Metropolregion Stuttgart die aktuellen Daten von amtlichen Wetterstationen und vergleichen sie automatisiert mit Langzeitmessreihen: Ist das Wetter heute ungewöhnlich oder nicht?

Folgen
Das Projekt will datenbasiert das Bewusstsein für die Auswirkungen des Klimawandels vor Ort schärfen. Die „Klimazentrale“ wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten Preis der Zeitungsbranche.