Neun Angeklagte, 22 Verteidiger, fünf Richter und zwei Ersatzrichter, eine 600 Seiten starke Anklageschrift und 400 000 Seiten Ermittlungsakte: Im Stammheimer Hochsicherheitssaal des OLG startet ein Mammutprozess.
Die Gesellschaft wandle sich – in bedenklicher Weise jene Teile, die dem Staat gefährlich werden. Die Justiz reagiere auf diesen Wandel. Das schildert der Präsident des Oberlandesgerichts (OLG), Andreas Singer, an einem geschichtsträchtigen Ort, in Stammheim. Dort wurde mit den Verfahren gegen RAF-Terroristen Justizgeschichte geschrieben. Der große steinerne Zeuge jener Zeit, der alte Gerichtssaal, verschwindet allmählich. Daneben steht ein hochmoderner Ersatz, erst seit wenigen Jahren in Betrieb, das neue Prozessgebäude in Stuttgart-Stammheim. Hier wird es bald wieder zu bisher nie dagewesenen Prozesstagen kommen. Denn vom 29. April an startet hier ein Staatsschutzverfahren, „das es so noch nicht gegeben hat“, sagte Singer am Freitag bei einer Pressekonferenz des OLG.
Das Verfahren beschäftigt sich mit einem Teil der Gruppe mutmaßlicher Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß und die frühere Bundestagsabgeordnete und Richterin Birgit Malsack-Winkemann. Parallel laufen an drei Oberlandesgerichten Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder, in Stuttgart, Frankfurt und München. Gemeinsam ist allen Beschuldigten, dass ihnen die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. In Stuttgart sollen mutmaßliche Mitglieder des „militärischen Arms“ dieser Vereinigung stehen, die unter anderem bereits mit dem Aufbau von 286 militärisch organisierten „Heimschutzkompanien“ begonnen haben soll. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten im Sinn gehabt, die staatliche Grundordnung zu beseitigen. In Stuttgart wird es unter anderem um eine Durchsuchung im März 2023 in Reutlingen gehen, bei der ein Mann aus seiner Wohnung mit einem halb automatischen Schnellfeuergewehr geschossen haben soll. Dabei wurden zwei Polizisten verletzt.
„Das sind keine netten Onkel, die irgendwelche komische Ideen haben.“
Das Mammutverfahren, für das Termine bis ins nächste Jahr angesetzt sind, steht für den OLG-Präsidenten Singer in einer Reihe von Verfahren die zeigen, dass das Inland stärker in den Fokus der Staatsschutzsenate rücke. 2016 bis 2020 habe man schwerpunktmäßig Verfahren zum islamistischen Terror zu führen gehabt. Nun hätten Anklagen aus dem Bereich des Rechtsextremismus und der Reichsbürgerszene merklich zugenommen, so Singer. Auf 23 000 Personen Ende 2022 schätze man die Szene, davon seien rund 2300 gewaltbereit. „Das sind keine netten Onkel, die irgendwelche komische Ideen haben“, sagt Singer. Er sehe sie als „Teil einer besorgniserregenden Gesellschaftlichen Entwicklung“, der Spaltung und Polarisierung. Von den sieben Strafsenaten des Oberlandesgerichts Stuttgart seien sechs mit Staatsschutzverfahren befasst.
Das Verfahren hat es nicht nur wegen der Vorwürfe in sich. In Stuttgart werden neun Beschuldigte mit 22 Verteidigern vor Gericht stehen. An den zwei anderen Standorten 18 weitere, zehn in Frankfurt und acht in München. Das OLG Stuttgart hat neben den fünf Richtern zwei Ergänzungsrichter benannt, um bei längeren Krankheiten einen ausfallenden Richter ersetzen zu können. So soll das Risiko eines Abbruchs verringert werden.
Ein ganzes Blatt voller Zahlen reichte Singer am Freitag zum Verfahren, und die machen fast schwindlig: Die Vereinigung soll laut der Anklage ein Waffenarsenal gehabt haben, das neben 382 Schusswaffen auch 347 Hieb- und Stichwaffen umfasst habe. Mindestens 148 000 Munitionsteile werden ihnen zugeschrieben. Außerdem sei noch weitere militärische Ausrüstung aufgetaucht, darunter ballistische Helme und schusssichere Westen. Die Anklageschrift erstrecke sich über 600 Seiten. Noch mehr Papier umfassen die Ermittlungsakten: Rund 400 000 Blatt liegen in 700 Aktenordnern – auch das habe er noch nie erlebt, so Singer. Zu deren Anfertigung habe die Bundesdruckerei ausgeholfen.
Nicht minder beeindruckend ist die Liste der Beweismittel laut der Anklage: Mehr als 300 Zeugen gibt es. Dazu würden auch die 18 Personen zählen, die in der gleichen Sache gesondert verfolgt werden – das sind die Beschuldigten in den Verfahren in Frankfurt und München. 270 Polizeibeamte und Beamtinnen sollen aussagen, 48 sonstige Zeuginnen und Zeugen. Außerdem werden 13 Sachverständige.
Aufwendig ist der Prozess auch, weil alle Beweise eingeführt werden müssen. „Nur aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung heraus kann eine Verurteilung erfolgen“, betont Singer. Und: Noch liege keine rechtskräftige Feststellung zur Struktur der Gruppe vor. Anders sei das bei PKK-Prozessen oder bei ehemaligen RAF-Mitgliedern. Bei den mutmaßlichen Mitgliedern der Reuß-Gruppe müsse die Struktur erst festgestellt werden.