Die Sperrung der Bahnlinie zwischen Fellbach und Bad Cannstatt hat dem Radverkehr einen Schub verschafft. Die Zählstation in Fellbach etwa ergab mehr als 30 000 Fahrten auf dem Fahrrad im Gesamtzeitraum der elfwöchigen Sperrung.
Elf Wochen lang durften sich die Anwohner entlang der Bahnlinie zwischen Waiblingen und Bad Cannstatt über himmlische Ruhe freuen: Vom 12. Mai bis Ende Juli war fast kein Zug unterwegs. Ähnliche Erholung von Lärm und Stress gab es für Fahrgäste nicht: Denn durch den Umbau zum digitalen Knoten für Stuttgart 21 musste die Strecke gesperrt werden. Für Pendler standen Busse parat – Schienenersatzverkehr (SEV) ist seitdem in der Region östlich der Landeshauptstadt kein Fremdwort mehr. Der Unmut über diesen SEV war auch in zahlreichen Protestmails an unsere Redaktion erkennbar: Oft fuhren die Busse gar nicht oder an Haltestellen vorbei, in den Stoßzeiten gab’s Riesengedrängel vor dem Einstieg wie auch drinnen, in den Nächten kurvten die Busfahrer oft ohne jeden Passagier durch die Gegend.
Manche stiegen auf das Auto um, um dann noch länger als sonst vor dem Fellbacher Kappelbergtunnel im Stau zu stehen. Und andere orientierten sich an der vom Land, den Kommunen und der Initiative Radkultur empfohlenen Alternative: Sie pendelten mit dem Fahrrad.
Fünf Wochen nach Ende der Sperrung veröffentlicht das Landesverkehrsministerium nun die Auswertung – und schwärmt: „Deutlich mehr Menschen als üblich setzten sich während des Aktionszeitraums aufs Fahrrad.“ Stellenweise „wurde eine Steigerung auf 160 Prozent beobachtet“. Der Vergleich an den zwei Zählstellen in Waiblingen ergab demnach: „Mit Beginn der Angebote stieg die Zahl sprunghaft an.“
Zahl der Radpendler stieg von rund 200 auf um die 500
Konkrete Zahlen nannte der Waiblinger Radkoordinator Anselm Kick im Planungsausschuss Mitte Juli. An der Zählstelle beim Baumarkt Obi in der Stuttgarter Straße wurden kurz vor der Sperrung in Richtung Westen nach Fellbach und Stuttgart 204 Radfahrer am Tag registriert, zwei Wochen nach Beginn der Bahnsperrung waren es 490 Radelnde. In der Gegenrichtung gen Waiblingen passierten nach anfänglich 190 Radlern dann 518 Pedaleure die Stelle.
Direkt zum Start des Aktionszeitraums hatte die Stadt Waiblingen im P+R-Parkhaus Innere Weidach auf der Südseite des Bahnhofs Platz für einen bewachten Fahrradparkplatz geschaffen. Außerdem wurden entlang der Stuttgarter Straße temporäre Radspuren eingerichtet, im Fachjargon als Pop-up-Radwege bezeichnet. Diese bleiben nun vorerst bis zum Ende des Jahres bestehen. Waiblingens Oberbürgermeister Sebastian Wolf zeigt sich erfreut über die jüngste Entwicklung: „Ich bin froh, dass es in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelungen ist, kurzfristig zusätzliche Angebote für Radfahrerinnen und Radfahrer zu schaffen. Dies hat sicher dazu beigetragen, die ausgesprochen schwierige Situation für Pendlerinnen und Pendler zu verbessern und manch einen zu motivieren, aufs Fahrrad umzusteigen.“ Die „positive Entwicklung der Zahlen“ sei äußerst erfreulich und letztlich „Ausdruck dafür, dass es geglückt ist, aus der misslichen Situation das Beste zu machen und gleichzeitig Erfahrungswerte mit Pop-up-Radwegen zu sammeln.”
Rote Teppiche für die Radfahrer
Auch die Stadt Fellbach machte binnen weniger Tage möglich, was zuvor nicht machbar schien: Radwege über Kreuzungen wurden per Pinselaufstriche in breite rote Teppiche verwandelt, am Schwabenlandtower konnte man sich mit dem Investor darauf einigen, die Baustellenabschrankung für das Hochhaus zu verschieben, um so Platz für einen gemeinsamen Geh- und Radweg zu schaffen.
Mehrere Zählstationen der Initiative Radkultur in Fellbach erfassten Tausende von Radelnden; eine der Stationen zählte insgesamt mehr als 30 000 Fahrten im Gesamtzeitraum der Sperrung. An der gleichen Stelle war bereits zwei Jahre zuvor für einen Tag – am 20. Juli 2021 – eine Zählstation aufgestellt worden. Der Vergleich ergibt: Am 20. Juli 2023 waren mehr als anderthalbmal so viele Menschen mit dem Fahrrad in beiden Richtungen unterwegs wie 2021.
Alle ziehen bei der Radförderung an einem Strang
„Die Streckensperrung hat uns alle herausgefordert“, sagt Fellbachs Oberbürgermeisterin OB Gabriele Zull. „Zehntausenden von Pendlern in kurzer Zeit alternative Mobilitätsformen aufzuzeigen ist komplex. Die enge und unkomplizierte Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und dem Verkehrsministerium hat aber gezeigt, was möglich ist, wenn alle an einem Strang ziehen. Die schnelle Ertüchtigung der Radwege und deren sicherere Gestaltung hat viele Pendler dazu gebracht, auf zwei statt auf vier Räder zu setzen.“ Ohne die Förderung durch das Verkehrsministerium und den kollegialen Austausch wäre eine solche Umsetzung in dieser Geschwindigkeit kaum möglich gewesen.
Für Landesverkehrsminister Winfried Hermann ist das „ein Paradebeispiel, wie viel man in der Radverkehrsförderung erreichen kann, wenn alle gut zusammenarbeiten und unbürokratisch und pragmatisch handeln“. Die Einschätzung des grünen Politikers: „Der Umstieg aufs Rad hat tausendfach geklappt, und viele haben bemerkt, dass Radfahren eine echte Alternative ist.“