Präsident Xi Jinping rüstet das chinesische Militär umfassend auf – mit konventionellen und mit nuklearen Waffen. Foto: dpa/Li Gang

Jahrzehntelang hat sich die Volksrepublik mit einem kleinen Arsenal an Atomwaffen begnügt. Nun jedoch rüstet das Land in beispiellosem Tempo auf. Die Gründe sind alarmierend.

Seit knapp drei Jahren schlagen Experten Alarm: In beispiellosem Tempo würde die Volksrepublik China ihr Atomwaffenarsenal aufrüsten. Wiederholt entdeckten US-Wissenschaftler auf Satellitenbildern neue Atomsilos in der nordchinesischen Wüste Gobi. Doch Pekings Propagandaapparat stritt sämtliche Anschuldigungen stets als profane „Lügen“ ab. Bei den vermeintlichen Atomsilos, so kommentierten damals die Staatsmedien, würde es sich lediglich um Windräder in einem Energiepark handeln.

Doch die nun am Montag veröffentlichten Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri stellen unmissverständlich klar: Kein anderer Staat der Welt weitet sein Atomwaffenarsenal mit einer solchen Geschwindigkeit aus wie das Reich der Mitte. Allein im letzten Jahr hat Peking zu seinen bereits bestehenden 350 Sprengköpfen rund weitere 60 hinzugefügt. Das ist eine Steigerung von knapp 20 Prozent.

Ende der „minimalistischen“ Atomstrategie?

Und dabei wird es nicht bleiben. Chinas Nukleararsenal werde „voraussichtlich weiter anwachsen“, heißt es in dem Sipri-Jahresbericht. Bis zum Ende des Jahrzehnts könnte das Land bereits über genauso viele atomwaffenfähige Interkontinentalraketen verfügen wie die derzeitigen Spitzenreiter Russland und die USA. „Es wird immer schwieriger, diese Entwicklung mit Chinas erklärtem Ziel in Einklang zu bringen, nur über die minimalen Nuklearstreitkräfte zu verfügen, die zur Aufrechterhaltung seiner nationalen Sicherheit erforderlich sind“, sagt der dänische Friedensforscher Hans M. Kristensen.

Denn offiziell verfolgt China eine „minimalistische“ Atomstrategie, die lediglich darauf abzielt, die nationale Sicherheit zu gewährleisten. „Ursprünglich war Chinas Ziel immer, eine überlebensfähige und sichere Zweitschlagfähigkeit aufzubauen, damit die USA nicht in Betracht ziehen würden, China zuerst mit Atomwaffen anzugreifen“, erklärt der chinesische Militärexperte Tong Zhao, derzeit Gastforscher an der Princeton Universität: „Es braucht also nur ausreichend Atomwaffen, um einen amerikanischen Erstschlag zu überleben, und dann genügend überlebende Atomwaffen zu haben, um eine Vergeltung gegen das US-Festland zu starten“. Jahrzehntelang verfügte China deshalb lediglich über zwanzig in Silos stationierte Interkontinentalraketen.

Laut einer ersten Reaktion des Pekinger Außenministeriums vom Montag hält man weiterhin daran fest. China setze sich für den Weltfrieden ein und werde niemals mit seinen Atomwaffen drohen, sagte Sprecher Wang Wenbin.

Doch ein Blick auf die Fakten belegt, dass Xi Jinping eine radikale Abkehr der einstigen Nuklearpolitik verfolgt. Denn nicht nur die Anzahl an Sprengköpfen steigt so schnell wie nie zuvor. China baut nun auch neben den bestehenden Atomsilos „mobile“ Interkontinentalraketen, Atom-U-Boote sowie atomwaffenfähige Kampfflugzeuge. Und da die Volksbefreiungsarmee eine sogenannte „zivilmilitärische Fusionsstrategie“ verfolgt, gehen Experten davon aus, dass sie auch zivile Kernkraftwerke dazu verwenden kann, um seine Lagerbestände auszuweiten.

Will China mehr als Abschreckung?

Die Gründe haben nicht nur mit den sich verändernden geopolitischen Realitäten zu tun. Zwar glaubt man in Peking, dass insbesondere die USA eine chinafeindliche Politik verfolgen und sich für einen möglichen Krieg wappnen, der sich am Taiwan-Konflikt entzünden könnte. Und auch Xi Jinping hat vor wenigen Monaten erstmals die Vereinigten Staaten und dessen Alliierte beschuldigt, Chinas Aufstieg „eindämmen“ zu wollen.

Doch all das erklärt längst noch nicht, warum China offenbar danach strebt, sich auf das Niveau der Amerikaner hochzurüsten. Schließlich verfügt Peking längst über genug Atomwaffen, um nach einem potenziellen Erstschlag zu kontern.

Möglicherweise verfolgt China mittlerweile andere Absichten als reine Abschreckung, sagt Experte Tong Zhao: „Einige Kritiker argumentieren, dass China in Zukunft seine traditionell bescheidene Nuklearhaltung ändern und sein Arsenal zunehmend als Mittel von Druckausübung einsetzen könnte.“

Große Sorgen bei den Nachbarn

Vor diesem Szenario haben nicht zuletzt die Staaten in der Region Angst. Es gibt kaum ein direktes Nachbarland, das keinen historischen Territorialstreit mit China unterhält – von Indien über Vietnam bis zur Mongolei. Zudem sorgen sich insbesondere die Philippinen um Chinas offensive Ambitionen im Südchinesischen Meer, das sich gegen den Ständigen Schiedshof in Den Haag hinwegsetzt. Und in Südkorea hat die wahrgenommene Bedrohung aus China auch eine Debatte angeheizt, die jahrzehntelang verstummt war. Die Regierung unter Präsident Yoon Suk-yeol erwägt ernsthaft, trotz des nuklearen Schutzschirms der USA ein eigenes Atomwaffenarsenal aufzubauen.