Der Autor Stephan Lamby hat Bundeskanzler Olaf Scholz und mehrere Minister seit Beginn ihrer Amtszeit eng begleitet. Sein Buch „Ernstfall. Regieren in Zeiten der Krise“ liefert wichtige Einblicke.
Robert Habeck, so schreibt es der Dokumentarfilmer und Buchautor Stephan Lamby, habe seien Wecker für sehr früh am Morgen gestellt. Doch der Grünen-Politiker und Vize-Kanzler finde kaum Schlaf. „Als er um kurz nach vier Uhr deutscher Zeit auf sein Smartphone schaut, liest er die ersten Nachrichten über den russischen Angriff“, so schreibt Lamby weiter. Habeck warte noch ein wenig, dann rufe er Kanzler Olaf Scholz an. Der sei bereits wach und mit den wichtigsten Meldungen versorgt.
Die Rede ist vom 24. Februar 2022. Russlands Präsident Wladimir Putin hat am frühen Morgen den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Russische Bodentruppen und Panzer dringen in die Ukraine ein. Die Welt verändert sich wie seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr.
Plötzlich interessiert Lauterbach nicht mehr
Lamby hat Olaf Scholz und mehrere Kabinettsmitglieder seit Beginn ihrer Regierungszeit eng begleitet. Er hat immer wieder Interviews mit ihnen geführt und war bei zahlreichen Reisen dabei. Als er damit im Dezember 2021 begann, dachte er vermutlich noch, Karl Lauterbach, der Gesundheitsminister, der die Coronakrise bewältigen sollte, wäre eine der zentralen Figuren im Kabinett. Der Fokus des Buches, das nun erscheint, ist natürlich ein anderer. Es heißt „Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges“ (C.H. Beck, 26,90 Euro) und es liest sich – auch wenn die historischen Fakten natürlich bekannt sind – wie ein Krimi.
Mit seinem Buch liefert Lamby eine dicht geschriebene und packende Darstellung der Ereignisse, die er weitgehend chronologisch anordnet. Das Buch enthält keine großen Überraschungen oder ungeahnten Enthüllungen. Die Zeit, die Lamby mit vielen Mitgliedern der Regierung verbracht hat, gibt ihm aber die Möglichkeit, immer wieder so detailliert zu schreiben, dass aus Geschichte – hier aus noch nicht abgeschlossener Historie – tatsächlich eine sehr lesenswerte Erzählung wird. Gut ist, dass er neben dem Krieg in der Ukraine auch andere Krisenfelder nicht aus den Augen verliert, sondern auch immer wieder auf die Bedrohung durch den Klimawandel Bezug nimmt.
In Zeiten, in denen viele Menschen den politischen Eliten immer gleich das Schlechteste unterstellen, ist es auch ein Wert an sich, dass es einen Einblick in das Innenleben des Regierungsapparats gibt – und in die Ernsthaftigkeit, mit der die Menschen unter hohem Druck ihren Job machen. „Man spürt die Furcht vor Engpässen bei der Energieversorgung, vor politischen Spannungen im eigenen Land“, schreibt Lamby. „Die Angst frisst sich tief in die Gemüter der Regierungsmitglieder und ihrer Mitarbeiter.“
Der Autor berichtet – am Rande vergibt er aber auch immer mal wieder Noten. In Olaf Scholz sieht er einen Kanzler, der im Frühjahr 2022 seinen „Helmut-Schmidt-Moment“ verpasst habe: also die Chance, sich durch entschlossenes Handeln den Ruf eines Krisenmanagers zu erwerben, wie ihn sich der spätere Kanzler Schmidt 1962 in der Hamburger Flutkatastrophe sicherte.
Warum Olaf Scholz mit Putin telefoniert
Lamby kritisiert, wie der große Teil der professionellen Beobachter, Scholz‘ Kommunikation. Er erklärt aber teils auch sein Handeln, also zum Beispiel, warum Scholz nach Kriegsbeginn mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert hat. Der Kanzler höre – wenn auch bislang vergebens – genau hin, ob Putin irgendeine Verhandlungsbereitschaft erkennen lasse. „Außerdem will Scholz, dass Putin nicht nur mit Informationen aus seinem eigenen Machtapparat versorgt wird, sondern auch abweichende Einschätzungen aus dem Westen zu hören bekommt“, schreibt Lamby.
Sympathien hat er offenkundig für Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der im beschriebenen Zeitraum mit dem Streit um das Heizungsgesetz und der Personalaffäre um den Staatssekretär Patrick Graichen einiges an eigenen Krisen durchzustehen hat. Lamby zitiert den früheren Außenminister Joschka Fischer, der zu seinem Abschied gesagt hat: „Ich war einer der letzten Live-Rock’n’Roller der deutschen Politik. Jetzt kommt in allen Parteien die Generation Playback.“ 17 Jahre später habe die Politik mit Habeck wieder einen solchen Live-Rock’n’Roller – auch wenn der schon mal an einen Blues-Musiker erinnere, der an Weltschmerz leide, schreibt der Autor.
„Ernstfall“ ist ein faktenreiches und, wie in lebendiger Zeitgeschichtsschreibung üblich, keinesfalls meinungsfreies, auf jeden Fall lesenswertes Buch.