Nach dem Sieg in Oberstdorf rechnet sich Andreas Wellinger gute Chancen auf den Gesamtsieg aus. Foto: dpa/Daniel Karmann

Andreas Wellinger führt vor den beiden Springen in Österreich die Wertung der Vierschanzentournee an. Er ist so gut drauf, dass ihm Trainer, Teamkollegen und Experten in diesem Jahr den Gesamtsieg zutrauen – 22 Jahre nach Sven Hannawalds Meisterstück.

Andreas Wellinger hat den ersten kleinen Dämpfer schnell weggewischt. „Ich bin überzeugt davon, ich habe morgen mehr Glück“, sagte der 28-Jährige am Dienstag nach Rang 15 (119,5 Meter) in der Qualifikation für den dritten Wettbewerb der Vierschanzentournee an diesem Mittwoch (13.30 Uhr/ZDF und Eurosport) in Innsbruck mit Blick auf die wechselnden Winde. „Ich bin jetzt nicht der Glücklichste, aber die Qualifikation ist geschafft – und das ist heute das Wichtigste.“

Zur Halbzeit des Skisprung-Grand-Slams in Deutschland und Österreich liegt Wellinger nach seinem Sieg zum Auftakt in Oberstdorf und dem dritten Platz im Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen in der Gesamtwertung in Führung. Und versprüht weiter Optimismus für das, was jetzt bevorsteht: „Ich bin relativ entspannt.“

Ein ganz enges Rennen

Das lässt sich mit Zahlen untermauern: Seit dem letzten deutschen Gesamtsieg von Sven Hannawald vor 22 Jahren krönten sich 16 von 21 Halbzeit-Spitzenreitern am Ende auch zu Tournee-Königen. Statistisch gesehen liegt die Chance also bei 76,2 Prozent, dass Wellinger den deutschen Tournee-Fluch tatsächlich beendet. Und noch etwas macht Hoffnung: Wellinger ist seit Hannawalds Triumph von 2002 der erste deutsche Flieger, der als Tournee-Spitzenreiter in die Österreich-Springen in Innsbruck und Bischofshofen geht.

„Das ist ein ganz enges Rennen, aber wir können das Ding diesmal tatsächlich gewinnen“, sagt der sonst immer extrem zurückhaltende Bundestrainer Stefan Horngacher. Was nicht nur ihn optimistisch wie nie zuvor macht: Wellinger zeigt in diesen Tournee-Tagen bislang extreme Nervenstärke und hat auch das nötige Quäntchen Glück. Nach seinem Qualifikationssieg im Auftaktort Oberstdorf jubelte sich Wellinger ein Loch unter der Achsel in seinen Skisprung-Anzug – eigentlich ein Grund für eine Disqualifikation. Doch niemand bemerkte den Fauxpas an diesem Abend, und der Deutsche gewann das Auftaktspringen. In Garmisch-Partenkirchen schwächelte Wellinger am Qualifikationstag extrem bei der Landung – doch als es dann darauf ankam, zeigte er zwei blitzsaubere Telemark-Aufsprünge.

„Ich fühle mich sehr locker und leicht – das kommt davon, dass ich in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen noch nie zuvor so gut Ski gesprungen bin“, sagte Wellinger selbstbewusst, bremst jedoch zugleich die Euphorie: „Aber es wird erst am Ende abgerechnet. Die Kunst ist, bis zum letzten Sprung die wenigsten Fehler zu machen.“

Sein Vorsprung bei Halbzeit auf seinen großen Konkurrenten Ryoyu Kobayashi beträgt schließlich nur 1,8 Punkte, umgerechnet genau ein Meter. Der Japaner, der in der Qualifikation in Innsbruck am Dienstag mit 129 Metern den dritten Platz belegte, hat den psychologischen Vorteil, dass er die Tournee 2019 und 2022 schon zweimal gewonnen hat. Und er hat den Vorteil, dass er im Gegensatz zu Wellinger fernab der Heimat keinen Erwartungsdruck spürt und sich nicht um das Rieseninteresse der Öffentlichkeit scheren muss. Seine kurzen Antworten auf Journalistenfragen sind fast schon legendär. Auf die Nachfrage, wie sein Verhältnis zu Wellinger sei und ob er mit ihm mal einen Kaffee trinken würde, antwortete Kobayashi nur das: „Ich trinke keinen Kaffee.“

Freitag siegte zum letzten Mal

Der Japaner hat die beiden ausstehenden Tournee-Springen in Österreich jeweils schon gewonnen, während Wellinger in Innsbruck und Bischofshofen bislang „nur“ zwei dritte Plätze auf dem Weg zu Rang zwei in der Gesamtwertung im Jahr 2018 zu Buche stehen hat. Dazu gilt der Bergisel-Bakken von Innsbruck als deutsche „Schicksalsschanze“ – spätestens hier platzten in den vergangenen Jahren die deutschen Tournee-Hoffnungen. Der letzte deutsche Tagessieg gelang dort Richard Freitag 2015.

Doch nicht einmal das schlechte deutsche Tournee-Karma von Innsbruck kann Wellinger schocken: „Ich weiß, dass Markus Eisenbichler und Karl Geiger hier Gold und Silber bei der WM gewonnen haben und anschließend noch den Titel im Team geholt haben.“ Das war bei der WM 2019. Und einer der Hauptdarsteller von damals ist felsenfest davon überzeugt, dass diesmal Wellinger ganz oben stehen wird. „Andi wird diese Tournee rocken. Er ist einfach momentan so entspannt drauf“, sagte Geiger.

Nach harten Jahren mit schweren Verletzungen vom Kreuzbandriss bis zum Schlüsselbeinbruch hat sich das „intuitive Skisprung-Ausnahmetalent Wellinger“ (Horngacher) das perfekte Erfolgspaket erarbeitet. Zur Topform kommen Top-Sprungski der neuen Marke Van Deer, der Firma von Alpin-Legende Marcel Hirscher. „Er ist die Frohnatur mit lockeren Sprüchen geblieben, die er schon immer war. Aber gleichzeitig bleibt Andi jetzt bei sich, rastet nicht aus. Die Verletzung hat ihn demütig gemacht, er kann das Fliegen noch viel mehr schätzen“, sagte der letzte deutsche Tournee-Gesamtsieger Hannawald und kam zu dem Schluss: „Ich traue ihm deshalb zu, dass er durchzieht bei dieser Tournee. Es wird auch Zeit, dass ich einen Nachfolger bekomme.“