Die Bauwirtschaft bietet auch Arbeit für gering qualifizierte Arbeitnehmer – nimmt ihnen das Bürgergeld die Motivation für diese körperlich harte Arbeit? Foto: imago//Christian Vorhofer

Wirtschaftsverbände kritisieren die Reform des Hartz-IV-Systems: Die Gesetzespläne von Bundessozialminister Heil machten Arbeit am unteren Einkommensrand weniger attraktiv. Das Vorhaben umfasst eine Vielzahl von Verbesserungen für die Betroffenen.

Kaum ist die konkrete Höhe des Bürgergelds bekannt, das Anfang 2023 das ungeliebte Hartz IV ablösen soll, da setzt es Kritik aus der Wirtschaft. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer wird am deutlichsten: „Am unteren Ende verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und dem Bürgergeld“, sagte er der „Rheinischen Post“. Dies führe zu „Demotivation“ bei Geringverdienern.

Im Visier hat Wollseifer „die Verbesserungen für die Bezieher beim Schonvermögen, den Wegfall von Sanktionen, die deutliche Anhebung des Regelsatzes, die komplette Übernahme der stark gestiegenen Heizkosten“. All dies werde „dazu führen, dass sich für mehr Menschen als bisher das Nicht-Arbeiten mehr lohnt als das Arbeiten“.

„Nicht arbeiten lohnt mehr als das Arbeiten“

Eine ähnliche Haltung vertritt die Bauwirtschaft Baden-Württemberg. „Nach wie vor gilt das Prinzip: Leistung muss sich lohnen“, sagte Hauptgeschäftsführer Thomas Möller unserer Zeitung. „Eine deutliche Erhöhung des neuen Bürgergel ds im Vergleich zu den bisherigen Hartz-IV-Sätzen inklusive der Übernahme von Wohn- und Heizkosten führt leider dazu, dass sich der Lohnabstand zwischen Nichtarbeit und der Bezahlung einfache r Tätigkeiten noch mehr verringert.“ Damit senke man aber den Anreiz, solche Tätigkeiten aufzunehmen .

Noch immer biete die Bauwirtschaft auch für gering qualifizierte Arbeitnehmer gewisse Beschäftigungsmöglichkeiten. „Wenn der Staat also schon ein höheres Bürgergeld bietet, dann sollte er gleichzeitig für höhere Entlastungen des Arbeitnehmers im Niedriglohnsektor sorgen“, mahnt Möller.

IHK ähnlich besorgt wie die Bauwirtschaft

Besorgt zeigt sich auch die Industrie - und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart. „Beim Konzept eines Bürgergel ds ist es wichtig, die Relation zu den geringen Einkommen im Blick zu behalten“, sagte eine Sprecherin auch mit Verweis auf geltende Hinzuverdienstgrenzen. „Es sollte auch in Zukunft möglich sein, durch eigene Arbeit mehr Geld in der Tasche zu haben, als wenn man Bürgergeld bekommt.“ Angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangels wäre es „mehr als kontraproduktiv, wenn es dazu führen würde, dass Menschen die Eigeninitiative verlieren, einen Job anzunehmen“.

53 Euro mehr im Monat als Regelsatz

Nach dem unserer Zeitung vorliegenden Gesetzentwurf von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) soll der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene 502 Euro im Monat betragen. Aktuell liegt er bei 449 Euro. Für volljährige Partner soll es von Januar an 451 Euro im Monat geben. Für Kinder von 14 bis 17 Jahren sind 420 Euro geplant. Für Sechs- bis 13-Jährige soll es 348 Euro, für bis zu Fünfjährige 318 Euro geben.

An diesem Mittwoch berät das Bundeskabinett den Entwurf. Rückhalt erhält Heil aus der Wissenschaft: „Das Bürgergeld ist auch nach der Erhöhung eigentlich noch zu niedrig, um Menschen sicher vor Armut zu schützen“, betont Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des Instituts WSI der Hans-Böckler-Stiftung, gegenüber unserer Zeitung. „Wenn, wie Wollseifer behauptet, durch die Erhöhung des Bürgergelds im Niedriglohnbereich die Grenzen zwischen Bürgergeld und Gehalt verschwimmen, zeigt das nur, dass hier Löhne gezahlt werden, die nicht armutsfest sind.“ Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels würden sich Geschäftsmodelle, die auf derart schlechte Bezahlung setzen, jedoch nicht behaupten können.

Lob und Kritik von Ministerkollegin aus dem Südwesten

Doch geht es bei der Reform nicht nur um die Regelsätze. So werden auch finanzielle Anreize für Weiterbildung und das Nachholen eines Berufsabschlusses geschaffen – unter anderem durch Prämien von bis zu 150 Euro pro Monat. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung, so Heil – nur durch Qualifizierung könne der Weg in Arbeit eröffnet werden. Sein Ziel sei es nicht, Bedürftigkeit zu verwalten, sondern, wo immer es geht, Wege aus dem System zu eröffnen.

Baden-Württembergs Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) lobt die Anreize für Qualifizierungen. „Eine Ausbildung oder eine Weiterbildung sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg in Arbeit und für die Fachkräftesicherung“, sagt sie. Viele andere Vorschläge stünden einer zügigen Integration aber im Wege. So folgten die Pläne vor allem dem Ansatz, den Zugang zu Sozialleistungen zu begünstigen und die Arbeitsweise der betreuenden Jobcenter und Kommunen zu erleichtern. „Der Leitgedanke des ‚Förderns und Forderns‘ geht fast vollkommen verloren“, rügt Hoffmeister-Kraut. „Das eröffnet Missbrauchsmöglichkeiten.“

Vorgesehen sei etwa eine zweijährige Karenzzeit für das Vermögen. Dies stelle eine Abkehr von der Systematik dar, wonach zunächst alle eigenen Mittel zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit eingesetzt werden müssten. Es solle ein Mechanismus zum Schutz des Vermögens eingeführt werden, der auf Lebensleistung und Erwerbsbiografie basiert. „Eine pauschale Karenzzeit führt zu Gerechtigkeitslücken und zum Nachteil der Menschen, die sich durch ihre Erwerbstätigkeit ein gewisses Vermögen erarbeitet haben – sie werden genauso behandelt wie Menschen, die nicht erwerbstätig waren“, sagt Hoffmeister-Kraut. „Das ist nicht gerecht.“