Die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970 kommen bald in ein Alter, in dem viele von ihnen pflegebedürftig sein werden. Das hat dramatische Auswirkungen für den Betreuungsbedarf in Baden-Württemberg.
Die Zahl der Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg könnte bis zum Jahr 2060 auf fast 801 000 steigen. Das wäre ein Zuwachs um 48 Prozent im Vergleich zu den rund 540 000 Pflegebedürftigen, die in der letzten Erhebung vor zwei Jahren registriert wurden. Die aktuellen Zahlen liefert das Statistische Landesamt Baden-Württemberg in seiner sogenannten Pflegevorausberechnung.
Als Grund für den Anstieg nennen die Statistiker den Alterungsprozess der Babyboomer-Generation, also der geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970. Diese Generation machte Ende 2021 laut Statistischem Landesamt fast ein Viertel der Einwohner Baden-Württembergs aus. „Diese stark besetzten Jahrgänge werden in den nächsten Jahrzehnten sukzessive in Altersgruppen mit höherem Pflegerisiko vorrücken“, teilten die Statistiker am Dienstag in Stuttgart mit.
Wellenförmiger Zuwachs: Ab 2050 wird der Anstieg rasant
Der Zuwachs an Pflegebedürftigen wird sich in Form einer Welle vollziehen. Während der Anstieg bis zum Jahr 2035 vergleichsweise langsam ist, beschleunigt sich die Entwicklung bis 2050 rasant. Zum Ende dieser Phase werden die Menschen der Babyboomer-Generation mindestens 80 Jahre alt sein, ein Teil von ihnen bereits über 90 Jahre – und damit stark pflegebedürftig. Zwischen 2055 und 2060 wird die Zahl der Pflegebedürftigen dann laut Prognose nur noch leicht ansteigen.
Regional ist die Entwicklung sehr unterschiedlich. Besonders stark wird der Zuwachs der Pflegebedürftigen im Stadtkreis Heilbronn und im Landkreis Schwäbisch Hall ausfallen. Dort prognostizieren die Statistiker bis zum Jahr 2040 einen Zuwachs um 37 Prozent. Am wenigsten betroffen wird demnach der Stadtkreis Stuttgart sein, dort soll die Zahl der Pflegebedürftigen der Prognose zufolge bis 2040 nur um neun Prozent ansteigen.
Heimstiftung: Wo sollen die zusätzlich benötigten Pflegekräfte herkommen?
„Es ist ja noch eine Weile hin bis 2060, aber für die heute 50jährigen Baden-Württemberger können die Zahlen schon schockierend sein“, sagt Bernhard Schneider, Geschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung. „Denn ein Zuwachs von 260 000 Pflegebedürftigen bedeutet, dass tausende zusätzliche Pflegekräfte gebraucht werden. Wo sollen die herkommen? Bereits heute fehlen Pflege und Betreuungskräfte, sodass es vielerorts schon spürbare Versorgungsengpässe gibt.“ Die nächste und übernächste Generation der Pflegebedürftigen müsse sich also auf einen harten Konkurrenzkampf einstellen, um für sich oder Angehörige eine gute Pflege organisieren zu können.
„Schockierend dürfte die Entwicklung aber vor allem deshalb sein, weil für die Bürger und auch für uns als Heimstiftung keine Strategie erkennbar ist, wie die Politik diesen wichtigen Bestandteil der Daseinsfürsorge für seine Bürger sicherstellen will“, sagte Schneider. „ Da rollt quasi ein Pflegetsunami auf uns zu und unser Gesundheitsminister schaut nicht hin.“ Die Evangelische Heimstiftung ist einer der größten Träger von Pflegeheimen und Pflegediensten in Deutschland.
Lucha spricht von „gewaltigen Herausforderungen“
Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) zeigte sich nicht überrascht von den Zahlen der Pflegevorausberechnung. Die seien in dieser Höhe erwartbar gewesen, die Pflegepolitik des Landes sei bereits langfristig ausgerichtet. „Mit Blick auf diese Berechnungen haben wir bereits jetzt ein ganzes Maßnahmenbündel geschnürt“ erklärte der Minister. „Wichtig ist aber sich vor Augen zu führen, dass die gewaltigen Herausforderungen in der Pflege auf allen Verantwortungsebenen angegangen werden müssen: von Bund, Land und Kommunen. Wesentliche Weichen wie etwa die nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in der Pflege können nur vom Bund gestellt werden. Umgekehrt müssen die Kommunen mehr Verantwortung erhalten und wahrnehmen mit Blick auf die konkreten Versorgungsstrukturen vor Ort.“
Unter Vorsitz von Baden-Württemberg seien in einer durch die Arbeits- und Sozialministerkonferenz eingerichteten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung beispielsweise bereits wichtige Vorschläge erarbeitet worden – zum Beispiel zur Weiterentwicklung der Kurzzeitpflege. „Unser wichtigster Vorschlag ist die Deckelung der Eigenanteile der Pflegebedürftigen. Diese explodieren, das müssen wir dringend stoppen“ so der Minister.
Kalkulation mit Berücksichtigung der demografischen Entwicklung
Derzeit wird im Rahmen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Beschlussvorschlag der Länder zur Sicherstellung der pflegerischen Versorgung erarbeitet und soll Anfang 2024 der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur Beschlussfassung vorgelegt werden.
Die Pflegevorausberechnung ist eine Kalkulation unter Status-quo-Annahmen mit Ausnahme der demografischen Entwicklung. Das bedeutet: die Ergebnisse bilden ausschließlich den erwarteten Alterungsprozess der Bevölkerung im aktuellen Pflegesystem ab. Mögliche Änderungen in der gesundheitlichen Entwicklung der Bevölkerung oder medizinische Fortschritte sind nicht berücksichtigt.