Rudolf Jehle als Heranwachsender. Er hat sich gern auf dem Motorrad seines älteren Bruders sitzend fotografieren lassen. Foto: Sammlung Hermann G. Abmayr

Das Deserteursdenkmal soll in die Stuttgarter Innenstadt verlegt werden. Damit soll der Forderung nach einem angemessenen Gedenken an die Opfer Rechnung getragen werden. Zu den Opfern gehört auch Rudolf Jehle.

Wangen - A m 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg. Jetzt, 75 Jahre später, hat man sich in Stuttgart zu einer Entscheidung durchgerungen: Der Gemeinderat beschloss in der vergangenen Woche, dass künftig an zentraler Stelle in der Innenstadt der Deserteure, die „ein Zeichen gegen den Krieg“ gesetzt hatten und dafür hingerichtet wurden, gedacht wird. Das von einer Privatinitiative angestoßene und 2007 vor dem Theaterhaus in Feuerbach enthüllte Werk des Künstlers Nikolaus Kernbach soll einen Platz vor dem Alten Waisenhaus in der Goerdelerstraße – heute ein stadteigener Parkplatz – erhalten. Allerdings erst im Jahr 2023, wenn die Dorotheenstraße umgestaltet wird. Der ursprünglich anvisierte Standort an der Stirnseite des Lern- und Gedenkortes Hotel Silber sei „wegen eines Baumes, dessen Wurzeln beim Aufstellen des Denkmals beschädigt werden, nicht möglich“, so Stadtsprecher Martin Thronberens.

Wegen Fahnenflucht hingerichtet

Das Denkmal erinnert vor allem an das Schicksal von rund 30 000 Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg, die Opfer der NS-Justiz wurden. Die Militärrichter haben bis zum Schluss verbissen an Adolf Hitlers Maxime festgehalten: „Ein Soldat kann sterben, ein Deserteur muss sterben!“ Mehr als 22 000 Todesurteile wurden tatsächlich vollstreckt. Wer die Front verlassen hatte, wurde fast ausnahmslos erschossen – auch ein junger Mann aus Wangen: Rudolf Jehle, Jahrgang 1922, ist wegen „Fahnenflucht“ verhaftet und am 28. April 1943 hingerichtet worden. Darüber informiert ein Stolperstein vor seinem einstigen Wohnhaus in der Ulmer Straße 316.

Der Journalist Hermann G. Abmayr hat vor einigen Jahren das Leben Rudolf Jehles recherchiert und für die Nachwelt festgehalten. Der blonde Lockenschopf ist im sogenannten „Vatikan“ aufgewachsen, einer Wohnsiedlung für die „kleinen Leute“ im Wangener Ortskern. Pauline und Gottlob Wilhelm Jehle, ein Metallarbeiter, lebten dort mit zwei Söhnen und einer Tochter zeitweise zu fünft in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock. 1935 stirbt Gottlob Jehle, Rudi ist da gerade 13 Jahre alt. Jetzt muss die Mutter allein für den Lebensunterhalt sorgen. Ab dem fünften Schuljahr besucht der aufgeweckte Junge die Lindenschule in Untertürkheim und erlernt anschließend beim größten Arbeitgeber im Stadtteil, der Firma Kodak, den Beruf des Werkzeugmachers. Später arbeitet er bei der Firma Heinrich Hermann.

Freiwillig zur Kriegsmarine

1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Rudolf Jehle meldet sich im Juli 1941 freiwillig zur Kriegsmarine. Doch dort wird der 18-Jährige schwer krank, zwei Mal muss er operiert werden. Im Sommer 1942 schreibt er seiner Mutter, dass es ihm zwar besser gehe. Doch die ärztlichen Untersuchungen hätten ergeben, dass er „für sämtliche Laufbahnen in der Kriegsmarine untauglich“ sei. Am liebsten wäre er wieder zu Hause – und so endet ein 14-tägiger Heimaturlaub mit einer ersten spontanen Flucht. Rudolf Jehle fährt nicht mit der Bahn zu seiner Kompanie im ostfriesischen Aurich, sondern dreht am Stuttgarter Bahnhof um. In Wangen holt ihn die Militärpolizei ab. Er wird in eine andere Kompanie versetzt – und nutzt die Gelegenheit, um erneut unterzutauchen. In Bremen wird er später festgenommen und flieht noch zwei Mal aus der Untersuchungshaft, wird aber stets gefasst. Pauline Jehle bekommt Anfang März 1943 zum letzten Mal Post von ihrem Sohn. Kurz nach diesem Brief verurteilt das Kriegsgericht in Groningen den 20-Jährigen zum Tode – ein Gnadengesuch beim „Führer“ ist abgelehnt worden. Zwei Tage nach der Hinrichtung wird der Leichnam von Rudolf Jehle auf dem Friedhof in Aurich beigesetzt. Die Mutter wird aufgefordert, die Kosten dafür zu übernehmen: 84,50 Reichsmark. Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen sind verboten, selbst schwarze Kleidung hat man ihr untersagt. Der Name Rudolf Jehle kehrt erst 1981 zurück ins Schwabenland, nach Sechselberg, wo die Jehles zuletzt wohnten. Als die Familie die Mutter begräbt, lässt der älteste Sohn auf ihrem Grabstein auch den von Rudi eingravieren.

Einfach nur frei sein

„Wie Rudolf Jehle über seine Fahnenflucht gedacht hat, wissen wir nicht“, räumt Abmayr ein. Ob er ein Held war? „Nach allem, was wir heute wissen, bestand sein ‚Heldentum’ darin, dass er sich der Kriegsmaschinerie der Nazis verweigert hat. Er war ein Deserteur, der die Freiheit gesucht hat.“

Mehr über Rudolf Jehle ist nachzulesen auf der Homepage der Initiative Stolpersteine: www.stolpersteine-stuttgart.de.