Während der Pandemie musste der Stiko-Chef Thomas Mertens auch immer wieder Kritik einstecken. Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Der Ulmer Virologe Thomas Mertens (73) gilt als eines der bekanntesten Gesichter der Coronapandemie. Nun zieht sich der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) zurück. Mit ihm gehen elf weitere Mitglieder. Wie es dazu kam, erklärt Mertens im Gespräch mit unserer Zeitung.

Während der Pandemie ist die Ständige Impfkommission (Stiko) auch Laien zum Begriff geworden. Der bisherige Vorsitzende Thomas Mertens geht nun in den Ruhestand. Was aber nichts mit Zwistigkeiten zu tun habe, wie Mertens im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt: „Ich bin schließlich schon 73“ – nun sollen andere ran. Den von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geplanten Umbau des Expertengremiums hätte er sich aber weniger radikal gewünscht.

Herr Mertens, seit 2004 waren Sie in der Stiko, seit 2017 ihr Vorsitzender. Jetzt hören Sie auf. Bedauern Sie das?

Ich bin überhaupt nicht der Typ, der in Trauer verfällt, wenn Dinge enden. Meine aktuelle Arbeitsperiode ist nun vorbei. Das hat nichts mit Zwistigkeiten zu tun. Denn ich hatte schon länger angekündigt, dass ich für eine weitere Amtszeit nicht zur Verfügung stehe. Denn mit meiner Frau bin ich zum Schluss gekommen, dass es nun gut ist. Ich bin schließlich schon 73.

Sie mussten während der Pandemie Kritik einstecken, wurden auch angefeindet. Hätten Sie ab und zu am liebsten alles hingeschmissen?

Ich habe manchmal daran gedacht, aber früher aufzuhören war für mich dann doch keine Option. Das ist nicht meine Art, zumal es so vielen Leuten gegenüber unfair gewesen wäre, unter anderem gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiko-Geschäftsstelle und gegenüber den Stiko-Kolleginnen und -Kollegen.

Die Stiko ist politisch unabhängig, die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich. Ist letzteres noch zeitgemäß?

Eins vorweg: Ich halte die Unabhängigkeit der Stiko für ein ganz wichtiges Gut. Alle Mitglieder, derzeit sind es 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, haben fordernde Vollzeitjobs. Die Arbeit im Gremium kommt obendrauf. Vor allem während der Pandemie waren wir schwerst beschäftigt, hatten viele stressige Sitzungen und Wochenendarbeit. Nur die Mitarbeiter in der Geschäftsstelle sind angestellt. Ohne diese hervorragenden Leute wäre die Kommission handlungsunfähig. Wenn man also ein Modell entwickeln könnte, das die Unabhängigkeit garantiert und zudem Festanstellungen aller Beteiligten bei angemessener Bezahlung möglich macht, wäre das bestimmt kein Fehler.

Fachleute spekulieren bereits darüber, dass das Gremium künftig enger ans Bundesgesundheitsministerium angebunden werden soll. Was halten Sie davon?

Diese Frage müssten Sie eigentlich dem Bundesgesundheitsminister stellen. Aber Karl Lauterbach hat ja bereits dementieren lassen, dass es derartige Pläne gibt.

Klar ist, dass das Ministerium die Stiko-Geschäftsordnung ändern will. So soll die Berufung der Mitglieder auf drei Perioden begrenzt werden, sprich: auf maximal neun Jahre . . .

. . . was ich grundsätzlich richtig finde. Allerdings sollten diese Anpassungen meiner Meinung nach besser stufenweise kommen.

Stand jetzt ist allerdings ein radikaler Umbau geplant.

Von den aktuell 17 Mitgliedern dürfen im Februar 2024, bei der jetzt regulären Neuberufung, nur fünf bleiben. Denn viele der Experten sind seit Jahren oder gar Jahrzehnten dabei und müssen ausscheiden. Wenn aber zwölf Fachleute auf einen Schlag weg sind, also zwei Drittel, bedeutet das auch einen ganz großen Verlust an Wissen und Erfahrung. Ein sanfterer Übergang wäre daher wünschenswert.

Ist Deutschland Ihrer Meinung nach gut durch die Pandemie gekommen?

Ich würde sagen, Deutschland hat das trotz aller Unkenrufe recht erfolgreich gemeistert. Das lag auch an der vergleichsweise hohen Anzahl an Krankenhäusern und Intensivbetten.

Welche Lehren wurden Ihrer Ansicht nach gezogen?

Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt welche gezogen wurden. Klar ist inzwischen, dass wir in Deutschland viel zu wenige Gesundheitsdaten haben. Da setze ich meine Hoffnung auch auf die digitale Patientenakte.

Während der Pandemie wurden Fehler gemacht. Welche waren Ihrer Meinung nach die schwerwiegendsten?

Ich denke, es hätte eine bessere Koordination gebraucht, mehr Absprachen, bevor man an die Öffentlichkeit geht. In anderen Ländern gibt es zum Beispiel zentrale Instanzen für medizinische Entscheidungen und deren Bekanntmachung. Und gesellschaftlich gesehen fallen mir vor allem die Kontaktsperren für Kinder und Senioren ein. Das hätte man anders regeln müssen. Aber hinterher ist man immer schlauer. Viele der Entscheidungen mussten damals sehr schnell und mit zu dem Zeitpunkt noch begrenztem Wissen getroffen werden. Dazu kommt: Auch Wissenschaftler sind sich nicht immer einig.

Hat die Pandemie aus Ihrer Sicht das Impfverhalten der Deutschen beeinflusst? Sind wir im internationalen Vergleich vielleicht sogar besonders impfskeptisch?

Es gibt natürlich Länder, die höhere Impfquoten erreicht haben. Und es stimmt, die Deutschen hinterfragen Dinge. Das finde ich völlig legitim. Impfkritiker und selbst Impfgegner sind zudem keine einheitliche Gruppe. Da gibt es kritische Menschen, die offen für Diskussionen und Argumente sind. Aber auch radikale Gläubige, sprich Menschen mit vorgefertigter Meinung, an die man nicht ran kommt.

Glauben Sie, dass es erneut Pandemien geben wird?

Ich bin sogar davon überzeugt. Einen Zeitpunkt kann man natürlich überhaupt nicht vorhersehen. Das kann auch erst in 50 Jahren passieren. Aber dass wieder eine Pandemie kommt, steht für mich außer Frage.

Wie sieht für Sie die nähere Zukunft aus?

Meine Frau und ich haben vier Kinder und sechs Enkel. Ich freue mich, dass wir künftig mehr Zeit mit der Familie verbringen können. Wir sind zudem Italienfans. Und wir segeln sehr gern mit unserem Boot. Keine Sorge: Mir war noch nie langweilig, da werde ich nun bestimmt nicht damit anfangen, Überdruss zu empfinden.

Der Experte und das Gremium

Zur Person
Thomas Mertens, geboren am 10. März 1950 in Freiburg im Breisgau, ist Arzt und Virologe. Von 1991 an war er Professor und von 1998 bis 2018 Ordinarius für Virologie an der Universität Ulm. Zudem war er Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Ulm.

Corona-Experte
2004 wurde Mertens Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko), seit 2017 war er ihr Vorsitzender. Während der Pandemie wurde der nun 73-Jährige zu einem der bekanntesten Corona-Experten in Deutschland.

Zum Gremium
Die Stiko ist ein unabhängiges und mit bis zu 18 ehrenamtlichen Mitgliedern besetztes Expertengremium. Es wurde 1972 am damaligen Bundesgesundheitsamt (BGA) in Berlin eingerichtet. Aufgabe der Kommission ist es, auf wissenschaftlicher Grundlage Empfehlungen für die notwendigen Schutzimpfungen in Deutschland vorzubereiten.

Schutzimpfungen
1991 beschloss die Gesundheitsministerkonferenz, dass diese Empfehlungen offiziell in allen Bundesländern als Grundlage dienen sollen. Nach der Auflösung des BGA wurde die Geschäftsstelle der Stiko 1994 dem Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin angegliedert. Sie gehört somit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). An den Sitzungen können auch Experten des BMG, der Landesgesundheitsministerien, des RKI und des Paul-Ehrlich-Instituts beratend teilnehmen.

Neurodnung
Das BMG plant nun, die Dauer der Berufung in die Stiko , die bisher unbefristet war, auf neun Jahre bzw. auf maximal drei jeweils dreijährige Berufungsperioden zu beschränken. Diese Zeitbegrenzung haben zwölf der Mitglieder bereits überschritten. Sie werden die Kommission verlassen und nicht mehr berufen werden können.