Die Nato stellt sich gegen Russland neu auf. Zur Abschreckung wird das Bündnis in den kommenden Wochen ein groß angelegtes Manöver durchführen. Foto: dpa/Daniel Naupold

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat alte Gewissheiten zerstört. Auch die Gesellschaft muss sich mit den neuen Realitäten auseinandersetzen. Die Nato setzt derweil auf Abschreckung und plant ein groß angelegtes Manöver.

Die Freiheit eines Landes wird nicht allein von Soldaten mit Waffen verteidigt. Admiral Rob Bauer mahnt, dass angesichts des Überfalls Russland auf die Ukraine ein Umdenken in der friedensverwöhnten europäischen Gesellschaft stattfinden müsse. „Wir brauchen öffentliche und private Akteure, die ihre Denkweise gegenüber einer Zeit ändern, in der alles planbar, vorhersehbar, kontrollierbar und auf Effizienz ausgerichtet war“, erklärte der niederländische Vorsitzende des Nato-Militärausschusses bei einer Tagung in Brüssel. Nun lebe man in einer Zeit, in der jederzeit alles passieren könne und in der man mit dem Unerwarteten rechnen müsse. Um die gemeinsame Verteidigung zu stärken und gleichzeitig die Ukraine in ihrem Existenzkampf zu unterstützen, sei ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz nötig.

Diskussion über „kriegstüchtige“ Bundeswehr

Wie schwierig dieses Umdenken etwa in Deutschland ist, zeigten jüngst die heftigen Diskussionen über die Formulierung des Bundesverteidigungsministers Boris Pistorius (SPD), dass die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden müsse. Das ist nicht nur eine deutsche Debatte. In den baltischen Staaten wird seit dem russischen Überfall über die Erhöhung der eigenen Verteidigungsfähigkeit gesprochen. Die schwedische Regierung empfiehlt ihren Bürgern, Vorkehrungen für einen Krieg zu treffen. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte zuletzt immer wieder vor einem realen Risiko eines Angriffs durch Russland auf die Nato-Staaten.

Auch Militärexperten überschlagen sich mit ihren Analysen zum Verlauf des sich verschärfenden Konfliktes zwischen Russland und dem Westen. Ausgetragen wird der zum Teil heftige Schlagabtausch gerne öffentlichkeitswirksam auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter). Dort schreibt etwa Verteidigungsexperte Fabian Hoffman, Doktorand an der Universität Oslo: „Wir sind einem Krieg mit Russland viel näher, als den meisten Menschen bewusst ist.“ Das bezeichnet der Militärhistoriker Jakub Janovsky als „Unsinn“. Er kontert auf X, dass Russland nach einem Ende des Kriegs in der Ukraine viel Zeit und Ressourcen brauchen würde, um seine Streitkräfte wiederaufzubauen.

Europa kann das Kriegsrisiko reduzieren

Gestritten wird vor allem um die Zeitdauer, in der Moskau fähig wäre, einen weiteren Krieg in Europa zu beginnen. Die Schätzungen schwanken zwischen zwei und acht Jahren. Keiner zweifelt allerdings, dass die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung gestiegen ist, auch weil Russland seine aggressive, imperiale Politik weiter vorantreiben wird. Allen gemeinsam ist auch die Mahnung, dass die Europäer das Risiko eines Krieges selbst reduzieren können.

Diese Einschätzung wird auch im Nato-Hauptquartier in Brüssel geteilt, weshalb sich das Verteidigungsbündnis völlig neu aufgestellt hat. Das bisherige strategische Konzept der Nato aus dem Jahr 2010 liest sich wie ein Papier aus einer anderen Welt. Damals hatten die Alliierten noch gehofft, dass die Zeit der großen Spannungen mit Russland vorbei sei, Moskau wurde sogar als potenzieller Partner gesehen. Der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine hat dieser Hoffnung auf Jahrzehnte hinaus ein Ende gesetzt. Die Nato wird sich bei ihrer Ausrichtung in Zukunft wieder an einem längst überholt geglaubten Freund-Feind-Schema orientieren.

Die Nato verstärkt ihre Ostflanke

Das bedeutet auch sehr konkrete Veränderungen für die Truppen. So wird die Nato-Ostflanke massiv verstärkt, um Moskau deutlich zu machen, dass ein Angriff einen sehr hohen Preis nach sich ziehen würde. In diesem Rahmen will etwa Deutschland eine 4000 Soldaten starke Kampftruppe dauerhaft in Litauen stationieren. Die Nato-Norderweiterung mit dem Beitritt Finnlands und dem geplanten Beitritt Schwedens spricht ebenso eine deutliche Sprache, wie ernst die Gefahr in Europa genommen wird.

Um Russland die Schlagkraft der Nato direkt vor Augen zu führen, will die Allianz in den kommenden Wochen für ein Großmanöver rund 90 000 Soldaten mobilisieren. Die rund vier Monate dauernde Übung mit dem Namen „Steadfast Defender“ (etwa: „Standhafter Verteidiger“) werde die größte des Verteidigungsbündnisses seit Jahrzehnten sein, erklärte US-General Christopher Cavoli am Donnerstag nach einem Treffen des Nato-Militärausschusses in Brüssel. Vorbereitungen für die Manöver sollen nach Angaben des Oberbefehlshabers der Nato-Streitkräfte in Europa bereits in der kommenden Woche beginnen. Der Start des eigentlichen Manövers ist dann für Februar vorgesehen. Trainiert werden soll dabei insbesondere die Alarmierung und Verlegung von nationalen und multinationalen Landstreitkräften.

In der Nato stehen alle für einen

Zur Drohkulisse der Nato gehört auch, dass im Falle eines Angriffs auf ein Land, die 30 anderen Mitgliedsstaaten zu Hilfe kämen. Immer wieder betont Generalsekretär Stoltenberg diesen Bündnisfall, der in Artikel 5 des Nato-Vertrages formuliert ist. Doch wären Deutschland oder Frankreich tatsächlich bedingungslos bereit, im Fall eines inzwischen wahrscheinlich werdenden Angriffs auf Estland eigene Kampftruppen an die Front und damit in den möglichen Tod zu schicken? Es sind diese Fragen, die Admiral Rob Bauer meinte, als er in Brüssel bei der Tagung des Nato-Militärausschusses mahnte, die ganze Gesellschaft müsse mit dem Unerwarteten rechnen und beginnen, sich mit vorher undenkbaren Szenarien auseinanderzusetzen.