Um den Görlitzer Park gibt es in Berlin immer wieder Streit – er wird geliebt, gehasst, umkämpft und ist umstritten. Foto: Carsten Koall/dpa/Carsten Koall

„Nicht Kreuzberg ist Deutschland“, sagte Friedrich Merz kürzlich bei einer Festrede in Bayern. Aber weiß der CDU-Politiker überhaupt, was Kreuzberg ist? Zu Besuch in einem besonderen Stadtteil.

Wenn Kreuzberg ein Gesicht hätte, dann sähe es vielleicht aus wie das von Ercan Yaşaroğlu – weißer Bart, dunkle Augen und darum Haar wie eine Löwenmähne, so voll, dass die hochgesteckte Lesebrille darin fast verloren geht. Yaşaroğlu sieht aus wie ein alter linker Philosoph. Oder wie ein türkischstämmiger Dumbledore, der Schuldirektor aus den „Harry Potter“-Büchern. Aber Yaşaroğlu hat weder Philosophie studiert noch eine Schule geleitet. Er ist Café-Besitzer in Kreuzberg.

Und hier, in seinem Café, dem Café Kotti, sitzt Yaşaroğlu nun, auf einer Terrasse im ersten Stock, direkt am Kottbusser Tor, einem der zentralen Plätze in Kreuzberg. Ein großer Kreisverkehr, darüber die U-Bahn, ein Ort wie ein Wimmelbild. Gerade ist Stau, Räder schlängeln sich zwischen Autos vorbei. Und überall Menschen. Sie zerren Einkaufstrolleys hinter sich her, sitzen in Cafés oder auf Treppenstufen, sie drehen Zigaretten, kaufen dicke Bündel Petersilie, schließen ihre Fahrräder an.

550 Kilometer bis zum Gillamoos

Vom Café Kotti bis nach Abensberg sind es 550 Kilometer. Das ist der Ort in Bayern, in dem kürzlich das Gillamoos stattfand, ein traditionelles Volksfest, auf dem CDU-Chef Friedrich Merz in einer Bierzeltrede sagte: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“ Was der CDU-Chef denkt, ist den meisten im traditionell linken Kreuzberg nicht so wichtig. Trotzdem fragen sich einige nun, was eigentlich dieses Gillamoos ist. Aber vor allem, was weiß Friedrich Merz überhaupt über Kreuzberg?

Zumindest die groben Eckpunkte dürften dem CDU-Chef bekannt sein. Kreuzberg ist ein Ortsteil von Berlin, es gehört zu Friedrichshain-Kreuzberg, dem kleinsten Bezirk der Stadt und dem mit der höchsten Einwohnerdichte: Mehr als 14 000 Menschen leben hier pro Quadratkilometer, so viele, wie in ganz Abensberg. Was ist das für ein Ortsteil, den Merz am liebsten von seiner persönlichen Deutschlandkarte streichen würde?

Man duzt sich in Kreuzberg und in Gillamoos

Das ist nicht einfach zu fassen, denn Kreuzberg ist ziemlich vielfältig. Wenn man versucht, von Kreuzberg zu erzählen, dann ist es eine gute Idee, bei Ercan Yaşaroğlu im Café Kotti anzufangen – oder besser bei Ercan. Denn das haben Kreuzberg und das Gillamoos gemeinsam: Man duzt sich.

Ercan ist eine Ikone in Kreuzberg. Wenn man mit ihm im Café Kotti sitzt, läuft ständig jemand an den Tischen vorbei, den er grüßt. Ercan ist 1959 in der Türkei geboren, 1982 kam er nach Berlin, nach Kreuzberg natürlich. Seit 2009 hat er das Café Kotti. Vorher arbeitete er lange als Sozialarbeiter und wenn man ihn in seinem Café beobachtet, dann scheint sich sein Beruf gar nicht so sehr verändert zu haben.

„Ein transkulturelles Labor“

Das Kottbusser Tor ist traditionell eines der Zentren der türkischstämmigen Kultur in Berlin. Aber es ist inzwischen viel mehr als das – und alle kommen im Café Kotti zusammen: die türkischstämmige Community, die sich hier zum Tee trifft, die Hipster, die Bier aus der Flasche trinken, Homosexuelle, Flüchtlinge und Touristen. „Wir sind hier ein transkulturelles Labor“, sagt Ercan. Er glaubt nicht an Integration, er glaubt an Begegnungen. Alle sind sich darin gleich, dass sie anders sind – so sieht die Welt durch Ercans Augen aus. Im Café Kotti scheint das zu funktionieren. Und sonst so im Kiez?

In Berliner Kriminalitätsstatistiken landet der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ziemlich weit vorne. 2022 gab es hier stadtweit die meisten erfassten Drogendelikte, auch die meisten Handtaschenraube. Dass Leute auf der Straße sitzen, nach Geld fragen, verwahrlosen, das ist Teil des Stadtbilds. Wer nach Kreuzberg kommt, um Elend zu sehen, muss nicht lange suchen. Es sei denn, man steigt in Kreuzberg 61 aus.

Weniger Kneipen, mehr vegane Tapas-Bars

Kreuzberg 61, das ist die Gegend von Kreuzberg, die schon lange bürgerlich ist. Der Name geht auf die einstige Postleitzahl zurück. Hier schaut man auf renovierte Altbauschluchten. Die Fußgängerwege sind breit, im Sommer stehen hier Tische vor Cafés, Kneipen und Restaurants, die man hier alle paar Meter findet. In den vergangenen Jahren hat sich die Gegend aber stark verändert: Alteingesessene Ladeninhaber mussten weichen, und statt Kneipen findet man nun immer mehr vegane Tapas-Bars.

Die Gentrifizierung trifft nicht nur das schicke Kreuzberg. Im gesamten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind die Mieten stark gestiegen: um 18 Prozent – und das nur im vergangenen Jahr. In Kreuzberg zu wohnen, bleibt für viele Mensch nur ein Traum, den sie sich nicht leisten können. Denn Kreuzberg ist so reich, wie es arm ist.

In wenigen Klicks zum Görli

Es gibt einen Ort in Kreuzberg, an dem das besonders deutlich wird. Am östlichsten Rand von Kreuzberg liegt der Görlitzer Park, der Görli, einer der umstrittensten Orte Berlins. Wer das Internet fragt, wo man in Berlin Drogen kaufen kann, der landet hier nach wenigen Klicks.

Christopher Wollin seufzt, wenn man ihn darauf anspricht. Christopher – man duzt sich ja – ist ein freundlicher Mann mit Brille, 42 Jahre alt, Vater von drei Kindern, er lebt mit seiner Familie an einer der Seitenstraßen, die den Görlitzer Park umschließen. Zum Gespräch ist er in den Park gekommen. Er ist oft hier, zum Sport, mit den Kindern, zum Rollschuhlaufen. Seine Tochter ist regelmäßig auf dem Kinderbauernhof, mitten im Park. Auch an diesem Nachmittag ist der Hof gut besucht. Zwei Mädchen tätscheln den Ponys die Nase. Eine Mutter fotografiert ihre Tochter vor dem Kaninchengehege. Ein Vater mit Dutt steigt mit seinen Kindern die Leiter zu einem Baumhaus hoch. Das alles ist Alltag im Görlitzer Park.

Dealer, die man sofort sieht

Aber da sind eben auch die Dealer, die im Park Geschäfte machen. Man findet sie leicht. Nicht, weil man sie an ihren Bauchtaschen erkennt. Und auch nicht, weil sie schwarz sind. Sondern weil sie fragen, ob man Drogen kaufen will. Viele sind Geflüchtete aus afrikanischen Ländern, oft haben sie keine Arbeitserlaubnis. Legal dürfen sie kein Geld verdienen, jetzt dealen sie. Kreuzberg, das ist der Ort, wo sich die schönsten und die hässlichsten Seiten von Migration zeigen. Es existiert hier alles nebeneinander.

Christopher ist Mitglied des Parkrats, eines Gremiums von Anwohnenden, das die Interessen der Nachbarschaft gegenüber der Politik vertritt. Sie wünschen sich, dass die Probleme hier gelöst werden – ohne dass der Park skandalisiert wird. Vor allem wollen sie keinen Zaun, wie es gerade in der Berliner Politik diskutiert wird. Christopher befürchtet, dass die Dealer dann noch öfter in die Straßen kommen, direkt vor seine Haustür. Stattdessen wünsche er sich mehr Sozialarbeit im Park, geschützte Räume für die Drogenkranken, mehr Veranstaltungen mit Publikum. Und dass man schwer einsehbare Orte im Park so umgestaltet, dass sie offener sind, besser zugänglich.

Jeder sollte sich Kreuzberg anschauen

Zurück im Café Kotti, mit einer letzten Frage an Ercan, der von seiner Terrasse über die Kreuzberger Straßen blickt: Wie kann man diesen Ort jemandem beschreiben, der noch nie in Kreuzberg war? Ercan schaut über die Brüstung seiner Terrasse, auf den Platz, den U-Bahnhof, die Autos, die Menschen, er lacht. Er sagt: „Mag sein, dass die Wände hier verschimmelt sind, mit Graffitis beschmiert, der Rasen wächst ein bisschen wild, alles ist ein bisschen aufgeregt. Aber man kann hier so vielen Menschen begegnen. Jeder sollte sich das mal anschauen. Zwei bis drei Wochen sollten reichen, um alle Vorurteile zu vertreiben.“