Menschen aus der Ukraine warten in einer Anlaufstelle für Flüchtlinge in Berlin auf ihre Registrierung. Foto: dpa/Hannibal Hanschke

Die EU hilft den Ukraine-Flüchtlingen schnell und unbürokratisch, doch Ziel muss es sein, das Asylsystem zu reformieren, kommentiert unser Brüssel-Korrespondent Knut Krohn.

Polen zeigt gerade die beiden unterschiedlichen Gesichter Europas. Noch vor wenigen Monaten galt das Land als die hässliche Fratze der EU. Warschau hatte im Winter den Bau einer Mauer an der Grenze zu Belarus befohlen. Schutzsuchende aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan steckten über Wochen in der klirrenden Kälte im Niemandsland zwischen den beiden Staaten fest. Menschen starben, Polen zeigte kein Erbarmen.

Die EU bietet jedem Flüchtenden Schutz

Welch ein Unterschied zu den aktuellen Bildern. An der Grenze zur Ukraine werden die Flüchtenden vor dem russischen Angriffskrieg von der polnischen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen und versorgt. Und auch die Europäische Union gibt sich ungewohnt unbürokratisch. Jeder werde aufgenommen, heißt es von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und jedem werde geholfen. Dieser Satz hat sehr konkrete Folgen. Die Kriegsflüchtlinge bekommen in jedem Staat der Union ohne Verfahren eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens zwölf Monaten. Sie haben das Recht zu arbeiten, zudem stehen ihnen eine Gesundheitsversorgung und der Anspruch auf Schulbildung zu. Angesichts der größten Flüchtlingsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit wahrscheinlich bis zu acht Millionen Menschen, ist das eine Herkulesaufgabe. Europa kann stolz auf sich sein, zumindest was die Versorgung der Flüchtenden in diesem Krieg angeht.

Doppelstandards bei der Hilfe für die Menschen

Doch auch diese große Hilfsbereitschaft hat eine zweite, weniger schöne Seite. Es wird deutlich, dass es in Europa zwei Kategorien von Schutzsuchenden gibt. Werden die Menschen aus der Ukraine großzügig aufgenommen, sind die Grenzen für die meisten Flüchtenden aus Afrika oder dem arabischen Raum seit Jahren nahezu verschlossen. Hilfsorganisationen beklagen zurecht diese Doppelstandards, die in Polen und Ungarn besonders deutlich werden. Beide Staaten wehren sich seit Jahren beharrlich, Flüchtlinge aufzunehmen und stehen vor allem Menschen aus muslimischen Ländern überaus ablehnend gegenüber. Offensichtlich wird, dass die Migrations- und Asylpolitik von Faktoren wie Hautfarbe, Religion oder Herkunftsland abhängt.

Das bedeutet, dass nicht nur in Sachen Menschlichkeit mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Hilfe für Schutzsuchenden wird auch immer weniger als universales Recht interpretiert, sondern zunehmend als politische Frage. Das allerdings ist keine neue Entwicklung, sie wird durch den Krieg in der Ukraine nur verstärkt und für jeden offensichtlich. Denn die Abschottung an den EU-Außengrenzen, sogenannte Pushbacks und Abschreckung von Migranten sind seit vielen Jahren gängige Praxis, vor der allerdings nur allzu gerne in Europa die Augen verschlossen werden.

Die EU verfolgt auch eigene Interessen

Die schnelle und unbürokratische Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge hat aber nicht nur menschliche Gründe, sie ist für die Europäische Union auch in ihrem eigenen Interesse. Der russische Präsident Wladimir Putin hat offensichtlich damit gerechnet, dass Europa angesichts der Millionen hilfesuchenden Menschen auseinanderbrechen und in einen lähmenden Streit verfallen würde. Das Gegenteil ist der Fall, die EU agiert schnell und solidarisch. Anders als in den Jahren 2015 und 2016 wird nicht über „Obergrenzen“ und „Verteilungsschlüssel“ gefeilscht. Das ist moralisch, menschlich und politisch ein Sieg über den Diktator im Kreml.

Doch er reicht nicht, sich für diesen Erfolg nun selbst zu feiern. Langfristig müssen Lehren aus dieser Entwicklung gezogen werden. Die Innenminister der EU haben sich am Montag in Brüssel auch deshalb getroffen, um die Reform der Migrations- und Asylpolitik voranzubringen. Die entsprechenden Gesetzesentwürfe liegen schon seit Jahren auf dem Tisch, wurden wegen der politischen Sprengkraft aber nicht in Angriff genommen. Diese Krise hat die Wucht, diese Blockade zu lösen.