Nahe der Stelle in Pragsdorf, wo der Sechsjährige am 14. September mit schweren Stichverletzungen gefunden wurde, an denen er später verstarb, steht ein buntes Kreuz und liegen Plüschtiere. Foto: dpa/Stefan Sauer

Der gewaltsame Tod eines sechsjährigen Jungen erschüttert das Dorf Pragsdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Nun ist ein 14-jähriger Jugendlicher aus dem Ort verhaftet worden. Die Bewohner sind erleichtert, aber auch ratlos, was das Motiv betrifft. Wie kann ein Heranwachsender ein brutaler Mörder sein?

Solch einen Fall hat Olaf Hildebrandt noch nie erlebt. Der 57-jährige Leiter der Mordkommission in Neubrandenburg zeigt sich erschüttert, als er über den gewaltsamen Tod des sechsjährigen Joel aus Pragsdorf spricht.

Das Kind wurde am 14. September „mit großer Brutalität getötet“, beschreibt Hildebrandt die Tat. Er spricht von „stumpfer und spitzer Gewalt.“ Der Junge wurde erstochen. Das Motiv des 14-jährigen Verdächtigen ist noch völlig unklar.

„Was geht in einem Menschen vor, dass er einen Sechsjährigen tötet?“

Polizisten in Pragsdorf: Nach der Tat haben Beamte einen 14-jährigen als Tatverdächtigen festgenommen. Foto: dpa/Stefan Sauer
Der Hausee, in dessen unmittelbarer Nähe Joel lag. Foto: dpa/Bernd Wüstneck
Ein frisch angelegter Sandweg führt zum Fundort, der wohl auch der Tatort war. Foto: dpa/Bernd Wüstneck

Die Nachricht von der Festnahme des Jugendlichen, dessen Familie auch in Pragsdorf wohnt, sorgte erst für Erleichterung bei den rund 580 Bewohnern der Gemeinde. Und dann für neue Fragen. „Was geht in einem Menschen vor, dass er einen Sechsjährigen tötet?“, fasst es Pragsdorfs Bürgermeister Ralf Opitz zusammen.

Nach der Verhaftung des Jugendlichen durch die Polizei geht für die Staatsanwälte die Ermittlungsarbeit weiter. So soll der Tatverdächtige zuerst psychologisch begutachtet werden. Davon hänge auch ab, ob die Tat als Mord eingestuft werden müsse. Man hoffe, dass der 14-Jährige von allein rede, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft.

Fragen, die vielleicht nie beantwortet werden können

Nach der Tat kommen viele Fragen auf. Fragen, die vielleicht nie beantwortet werden: Wie kann ein junger Mensch eine solch brutale Tat verüben? Wie kann jemand, der selbst noch im Jugendalter ist, ein Kind töten? Was ist das Motiv? Wo sind die Ursachen zu suchen? Im familiären oder sonstigen Umfeld? In der psychischen Entwicklung und Persönlichkeit des Tatverdächtigen? Lässt sich ein so extremes kriminelles Verhalten überhaupt rational erklären?

Pragsdorf hat rund 580 Einwohner. Jeder kennt hier jeden. Foto: dpa/Bernd Wüstneck
Erinnerung an den ermordeten Jungen: ein Kreuz, Blumen, Kerzen, Bilder, Plüschtiere. Foto: dpa/Bernd Wüstneck

Warum werden Menschen zu Mördern?

Die Strafrechtlerin Britta Bannenberg von der Universität Gießen sagt – ganz allgemein – über Menschen, die zu Schwerverbrechern, zu Mördern werden: „Es gibt in seltenen Fällen sehr schlechte Voraussetzungen in der Disposition und für bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen geben, die schwer zu beeinflussen sind.“

Gerade im Bereich schwerer Gewalt treffe man auf Menschen, die keine Empathie hätten, führt die Kriminologin weiter aus. „Sie sehen den anderen nicht als Menschen und empfinden kein Mitgefühl. Sie denken nur an sich selbst und die Durchsetzung ihrer Interessen. Sie können auch aus verschiedenen Gründen Spaß an der Gewalt und der Dominanz über andere Menschen haben.“ Teilweise könne dies genetisch bedingt sein Bei vielen kämen auch negative Erfahrungen, insbesondere Vernachlässigungen oder Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, hinzu.

Gibt es ein Gewalt-Gen?

Forscher haben herausgefunden, dass es ein spezielles Gen gibt - das sogenannte Monoaminoxiadse-A oder MAOA-Gen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion von Botenstoffen im Gehirn wie beispielsweise Serotonin, das wie eine Art Stimmungsstabilisator wirkt.

Bestimmte angeborene Veränderungen dieses Gens – sogenannte Mutationen – können die Neigungen zu Gewalt und aggressivem Verhalten erhöhen. Auch veränderte Hirnfunktionen, welche die Impulskontrolle und die Stimmungsschwankungen steuern, sind als eine mögliche Ursache für kriminelles Verhalten ausgemacht worden.

Erbgut oder Umwelt: Was prägt mehr?

Inwieweit beeinflussen Gene unser Verhalten? Gibt es eine genetische Disposition für Gewalt? „So einfach ist das nicht, das ein Gen unser Verhalten bestimmen würde“, betont Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Tübingen. „Es gibt nicht ein Gen, sondern nur einen Komplex von Konstellationen und Gen-Aktivitäten. Wir würden nicht von unseren Genen gesteuert. „Gesellschaftliche Situationen und bestimmte Umstände beeinflussen unser Verhalten erheblich.“

„Den Mörder gibt es nicht“, sagt auch Britta Bannenberg. „Motive sind sehr unterschiedlich, Persönlichkeiten auch.“

Wenn Kinder töten

Bei schweren Gewalttaten wie Mord und Totschlag sind Jugendliche vergleichsweise selten Tatverdächtige. 206 Personen im Alter von 14 bis 17 Jahren werden für das Jahr 2022 in der Polizeilichen Kriminalstatistik mit sogenannten Straftaten gegen das Leben in Verbindung gebracht. 19 Kinder unter 14 Jahren waren außerdem tatverdächtig bei solchen Straftaten.

Zum Vergleich: Insgesamt verzeichnet die Statistik im vergangenen Jahr 3539 tatverdächtige Personen aus allen Altersgruppen bei Straftaten gegen das Leben, zu denen auch fahrlässige Tötung oder nicht erlaubte Schwangerschaftsabbrüche zählen.

Schwere Gewalttaten von Jugendlichen

Bundesweit für Schlagzeilen haben in diesem Jahr aber einige Fälle gesorgt, bei denen Teenager ebenfalls Minderjährige getötet haben sollen:

  • Ein 14-Jähriger soll im September 2023 im fränkischen Lohr am Main einen Gleichaltrigen erschossen haben.
  • Eine 12-jährige aus Freudenberg in Nordrhein-Westfalen wurde im März durch zahlreiche Messerstiche getötet. Zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren haben die Tat gestanden.
  • Ein 14-Jähriger soll im Januar einen gleichaltrigen Jungen in Wunstorf bei Hannover erschlagen haben.
  • Ein 17-Jähriger soll ebenfalls im Januar in Weisendorf nahe Mittelfranken seine jüngere Schwester mit einem Messer getötet und seine Mutter schwer verletzt haben.