Extrem energiereiche kosmische Strahlung ist im Mai 2023 vom Telescope-Array-Experiment im US-Bundesstaat Utah eingefangen worden. Was es mit diesem „Amaterasu“-Teilchen auf sich hat, stellt die Astrophysiker vor ein Rätsel. Foto: Osaka Metropolitan University/L-Insight, Kyoto University/Ryuunosuke Takeshige

Die Erde wird ständig von Strahlen aus dem Weltall getroffen. Die kosmische Strahlung, die Astronomen aber jetzt gemessen haben, bricht alle Rekorde. Sie ist das zweit-energiereichste Ereignis aller Zeiten und kommt aus der Milchstraße. Doch woher genau? Niemand weiß es. Und damit beginnt das kosmische Rätsel.

Salt Lake City, 15. Oktober 1991: Ein Forscherteam der University of Utah entdeckt bei einem astrophysikalischen Experiment am „Fly’s Eye Cosmic Ray Detector“ in der West Desert im US-Bundesstaat Utah ein kosmisches Teilchen, das es so eigentlich gar nicht geben dürfte. Was kann es sein? Ein Sendbote aus dem Weltall? Eine astronomische Anomalie?

1991: "Das-Oh-mein-Gott-Teilchen"

Nach langwierigen Untersuchungen steht fest: Es handelt sich um ultrahochenergiereiche kosmische Strahlung (Ultra-high-energy cosmic ray, UHECR). Sie ist so energiereich wie kein anderes bisher beobachtetes derartiges Teilchen, das aus den Tiefen des Universums kommend die Erde getroffen hat.

Die Wissenschaftler sind ratlos und nennen das mysteriöse Etwas „The-Oh-my-God-Particle“ – „Das-Oh-mein-Gott-Teilchen“.

Beim Teleskop Array verteilen sich 507 Detektorstationen (braune Punkte) auf 700 Quadratkilometern in der Wüste im US-Bundesstaat Utah.  Foto: University of Utah

Salt Lake City, 27. Mai 2023: Und wieder geschieht es: Das Telescope Array, ein international betriebenes Observatorium nahe der Stadt Delta im US-Bundesstaat Utah, registriert ein extrem energiereiches Teilchen. Die Wissenschaftler taufen es „Amatersasu“, benannt nach der Göttin der aufgehenden Sonne im japanischen Shintō-Glaube. „Amaterasu“ ist der zweitenergiereichste kosmische Strahlenpartikel nach „The-Oh-my-God-Particle“.

Das von der University of Utah und der Universität von Tokio geleitete rund 700 Quadratkilometer große Teleskop Array besteht aus 507 Detektorstationen, die in einem quadratischen Raster angeordnet sind. Das außergewöhnliche Partikelereignis löst bei 23 Detektoren auf einer Messfläche von 48 Quadratkilometern roten Alarm aus.

Ihre Studie („An extremely energetic cosmic ray observed by a surface detector array“) haben die Forscher um den Astrophysiker Toshihiro Fuji von der Osaka Metropolitan University in Japan jetzt im Fachmagazin „Science“ veröffentlicht.

Gigantische Energiemenge in einer Nussschale

„Amatersasu“ ist mit der enormen Energie von 244 Exa-Elektronenvolt (EeV 0= 2,4 x 1020 eV ) auf die Erdatmosphäre aufgeprallt. Zur Info: Das Elektronenvolt (eV) wird in der Atomphysik, Kernphysik und Elementarteilchenphysik zur Angabe von Teilchenenergien und Energieniveaus verwendet. Das Kürzel EeV steht für Exa-Elektronenvolt, eine physikalische Maßeinheit aus der Astrophysik für die Messung der gigantischen Energiemenge von Partikeln im Bereich der kosmischen Strahlung.

„Amaterasus“ Heimat: ein Lokaler Void

Das Universum ähnelt einer Art Wabenstruktur bzw. einem kosmischen Netz. Foto: Nasa/Esa/E. Hallman/University of Colorado

Seltsam an der ganzen Sache ist, dass „Amaterasu“ von einem sogenannten Lokalen Void zur Erde gelangt ist. Zur Info: Voids werden in der Astrophysik und Kosmologie Leer- bzw. Hohlräume im Weltall genannt, in dem (fast) nichts existiert. Sie umspannen wie ein Netz sogenannte Filamente (von lateinisch: filum, Faden).

Filamente wiederum sind – wie der Name schon sagt – fadenförmige Verbindungen aus sichtbarer und dunkler Materie zwischen sehr dichten Ansammlungen von vielen Galaxien – den sogenannten Galaxienhaufen und Superhaufen.

Die Struktur des Universums kann man sich als eine Art Wabenstruktur oder kosmisches Netz vorstellen. Dieses Netz besteht aus Filamenten - als den größten bekannten Strukturen im Kosmos - und Voids. Diese enthalten im Verhältnis zu ihrem Volumen nur sehr wenige Galaxien. Auch Voids haben eine Wabenstruktur und gehören zu den größten inhomogenen – das heißt nicht gleichmäßig aufgebauten – Strukturen im Universum.

Schutzschild der Erde schützt vor kosmischer Strahlung

Die Atmosphäre schützt die Erde vor kosmischer Strahlung. Foto: Imago/Zuma Wire

So weit so gut. Doch was kann Teilchen wie „The-Oh-my-God-Particle“ und „Amaterasu“ so stark beschleunigt haben, obwohl in einem Void eigentlich (fast) nichts ist? Um das zu beantworten, müssen wir zuerst ein Blick auf die Erde werfen. 

Der Blaue Planet wird beständig von energiereichen Teilchen aus dem tiefen Weltraum getroffen. Diese Strahlung wird auch kosmische Strahlung genannt. Der größte Teil davon wird vom irdischen „Strahlenschutzschild“ abgefangen. Einige dieser auf extreme Geschwindigkeiten beschleunigten Teilchen dringen dennoch bis in die Erdatmosphäre vor.

Gäbe es diesen Schutzschild nicht, könnte auf der Erde kein Leben existieren. Die Strahlung würde wie ein konzentrischer Strahl auf die Erdoberfläche auftreffen und augenblicklich alles getroffene Dasein in seine atomaren und subatomaren Bestandteile zerlegen.

Atmosphäre: Hexenküche der Erde

Der Atlas-Detektor am Large Hadron Collider des Cern in Genf. Foto: Cern

In der Atmosphäre prallen die kosmischen Strahlen dann mit Gasteilchen aufeinander und erzeugen ein Vielzahl weiterer Teilchen. Astronomen können sie mit speziellen Messgeräten – den sogenannten Detektoren – nachweisen und aus der Menge, Energie und Richtung der Teilchen rekonstruieren, woher die kosmische Strahlung gekommen sein könnte.

Kosmische Strahlung ist generell extrem energiereich. Sie enthält überwiegend Protonen – also Partikel, die aus fernen galaktischen und extragalaktischen Quellen, aber auch von unserer Sonne stammen können. Ihre Energie ist gewaltig: mindestens eine Million Mal höher als alles, was die leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger  wie etwa der Large Hadron Collider des Cern in Genf erreichen können.

Woher kommt die kosmische Strahlung?

Jeder Atomkern besteht aus positiv geladenen Protonen und elektrisch neutralen Neutronen. Foto: Imago/UIG

Doch woher kommt die Strahlung – speziell die von 1991 und 2023? Wo liegt ihre Quelle? Welchen Weg hat sie auf ihrer Zickzacktour durch das Universum zurückgelegt? Rätsel über Rätsel. Kein Wunder, dass die Forscher das mysteriöse Teilchen im Jahr 1991 „The-Oh-my-God-Particle“ nannten.

Bislang haben Astronomen gerade mal 30 solcher Teilchen detektiert, die zur ultrahochenergiereichen kosmischen Strahlung gehören. „Der Ursprung solcher UHECR-Teilchen liegt gängiger Annahme nach in den energiereichsten Phänomenen des Universums, wie den relativistischen Ausströmen Schwarzer Löcher, Gammastrahlenausbrüchen oder großräumigen Schockwellen von Galaxienkollisionen“, erklären die Experten um Toshihiro Fuji. Zwar scheinen die Hochenergie-partikel weniger gleichmäßig verteilt zu sein als „normale“ kosmische Strahlung. Ihr Ursprung ist jedoch unbekannt.

Strahlenquelle liegt 320 und mehr Lichtjahre von der Erde entfernt

Irgendwo in den unendlichen Weiten der Milchstraße befindet sich die Strahlenquelle von „The -Oh-my-God-Particle“, „Amatersasu“ & Co. Foto: Imago/Xinhua

Astronomen wissen mittlerweile, dass die Quellen von UHECR-Partikeln – in kosmischen Maßstäben betrachtet – nicht sehr weit entfernt liegen. Weil sie mit der  kosmischen Hintergrundstrahlung interagieren, verlieren sie auf ihrer Reise durchs Weltall Energie. Selbst die energiereichsten UHECR-Teilchen können daher maximal aus Entfernungen von 160 bis 320 Millionen Lichtjahren stammen.

Zum Vergleich: Ein Lichtjahr ist die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Das Licht legt in der Sekunde ungefähr die Strecke Erde-Mond zurück. Eine Lichtsekunde entspricht folglich rund 300 000 Kilometern – das sind 9,46 Billionen Kilometer pro Erdenjahr oder 9,46 Billiarden Meter.

„The-Oh-my-God-Particle“, „Amatersasu“ & Co : superklein und superstark

„The-Oh-my-God-Particle“, „Amatersasu“ & Co sind subatomare Teilchen von Protonen-Größe und demnach kleiner als ein Atom. Protonen gehören neben Neutronen und Elektronen zu den Kernbausteinen der Atome, aus denen alle Materie zusammengesetzt ist.

Doch obwohl „Amatersasu“ so winzig ist, besitzt es eine gigantische Durchschlagskraft. Wäre es massiv, würde die gemessene Energie der eines Ziegelsteins entsprechen, der einem Menschen aus Hüfthöhe auf den Zeh fällt. „Als ich die Daten zum ersten Mal sah, dachte ich, es muss sich hier um einen Irrtum handeln“, betont Toshihiro Fujii.

Wie gefährlich ist kosmische Strahlung für Menschen?

Was genau geschieht, wenn kosmische Strahlung auf die Erde trifft? Und ist diese Strahlung für Menschen gefährlich? Wir erklären es am Beispiel von „Amatersasu“:

Dieser kosmische Partikel trifft auf die obere Atmosphäre der Erde. Dabei werden die in der Atmosphäre enthaltenen atomaren Kerne von Sauerstoff- und Stickstoffgas gesprengt, wodurch zahlreiche subatomare Sekundärteilchen entstehen. Diese Partikel legen in der Atmosphäre nur eine kurze Strecke zurück und sorgen durch Kollisionen mit anderen Partikeln für weitere Teilchenkaskaden.

Zum Schluss entsteht ein breit gestreuter Schauer aus Milliarden von Sekundärteilchen, die auf die Erdoberfläche aufschlagen. Für das Leben auf der Erde und speziell für den Menschen sind diese Strahlenpartikel nicht gefährlich. Sie gehören genauso wie die Sonneneinstrahlung quasi zum festen Inventar an Strahlen, denen wir permanent ausgesetzt sind.

Suche nach der mysteriösen kosmischen Ursprungsregion

Diese Foto des Hubble-Teleskops zeigt die Umgebung von Galaxie NGC 650 (heller kleiner Fleck in der Bildmitte): Ein (fast) leerer Raum inmitten des Weltalls – eine Lokale Void. Foto: Esa/Hubble/Nasa/Digitized Sky Survey 2/Davide De Martin

Im Fall von „Amatersasu“ haben die Detektoren des Teleskop Array diesen Vorgang exakt aufgezeichnet. Die Menge der geladenen Teilchen, die dabei auftreffen, gibt Aufschluss über die Energie des Ursprungsteilchens.

Mysteriös ist indes nicht nur die Energie von „Amatersasu“, sondern auch seine kosmische Ursprungsregion. Denn in der Richtung, aus der die Strahlung gekommen ist, gibt es – wie beim „The-Oh-my-God-particle“– eigentlich (fast) nichts. Auch bei „Amatersasu“ liegt die Strahlenquelle in einem Lokalen Void – also einer weitgehend verwaisten Zone des Weltraums, die direkt an den Galaxienhaufen unserer Milchstraße, der sogenannten Lokalen Gruppe, grenzt.

Von wo am Himmel stammen diese Teilchen?

Weil Partikel mit so extrem hohen Energien kaum durch kosmische Magnetfelder und andere im Weg liegende Einflüsse abgelenkt werden, lässt sich ihre grobe Flugrichtung rekonstruieren. „Die Teilchen sind so energiereich, dass sie von galaktischen und außergalaktischen Magnetfeldern nicht beeinflusst werden sollten“, erläutert Koautor John Matthews von der University of Utah.

„So konnten wir das neue Teilchen aufgrund seiner Flugbahn zwar bis zu seinem theoretischen Ursprung zurückverfolgen. Nur gibt es dort nichts, was energiereich genug wäre, um es zu erzeugen. Das ist das Rätsel an der Sache“, so der Physiker weiter.„Man kann dann herausfinden, von wo am Himmel diese Teilchen stammen.“

In dem betreffenden Lokalen Void gibt es laut Matthews nur eine kleine Anzahl von Galaxien. Keine von diesen sei ein Ort, an dem UHECR-Teilchen durch Beschleunigung entstanden sein könnten. Auch Gammastrahlenquellen oder andere energiereiche kosmische Phänomene gäbe es dort nicht. Matthews:„Das ist wirklich ein Rätsel. Was geht hier vor?“

Was oder wer hat die Strahlen zur Erde geschickt?

„God Particle“ – Gottesteilchen: Abstrakte Illustration des Higgs-Boson, einem Elementarteilchen aus dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik Foto: Imago/Science Photo Library

Jetzt wird es für Astronomen und Teilchenphysiker erst so richtig spannend. „Möglicherweise gibt es noch unbekannte kosmische Phänomene oder sogar neuartige physikalische Prozesse jenseits des Standardmodells“, spekulieren Fujii und sein Team.

Zu diesem noch unbekannten Typ von Teilchen könnten „The-Oh-my-God-Particle“ und „Amatersasu“ gehören. Sie könnten aus noch größeren Entfernungen  stammen als der bisher postulierten Maximaldistanz von kosmischer Strahlung – also 160 bis 320 Millionen Lichtjahren.

Doch was oder wer hat diese extrem energiereichen Teilchen auf ihren weiten Weg durch das Weltall geschickt? Diese und andere Fragen bleiben ein großes,  ungelöstes – und vorest auch noch unlösbares Rätsel.