Im OP wird mancherorts das Material knapp. Foto: imago images/Cavan Images

Die Landesregierung von Baden-Württemberg macht Druck auf Berlin und Brüssel. Die Neuzertifizierung von Medizinprodukten gefährdet die Versorgung, vor allem der Kinder.

Der baden-württembergische Sozial- und Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) hat im Gespräch mit unserer Zeitung seine tiefe Sorge über die laufende EU-Reform der Medizinprodukte-Verordnung geschildert. Die Reform ist in Fachkreisen auf heftige Kritik gestoßen, da sie eine Neuzertifizierung von Medizinprodukten zum Inhalt hat, die allerdings teuer und aufwendig ist und vielfach zur Einstellung der Herstellung von Produkten mit geringen Stückzahlen führt. Betroffen sind beispielsweise Katheter und Stents in der Kinderherzchirurgie.

Eingriffe „nicht mehr richtig“ durchgeführt

„Die Problemanzeigen aus der Versorgung von Medizinischen Fachgesellschaften der Krankenhausgesellschaft oder einzelnen Ärzten nahmen in den vergangenen Wochen massiv zu“, sagte Lucha. „Als Gesundheitsminister bin ich erschüttert, wenn Ärzte und Ärztinnen mir berichten, dass sie Operationen nicht oder nicht mehr richtig durchführen können.“ Auch neue Haftungsrisiken seien nicht vertretbar, sie könnten aber auftreten, wenn für die Anwendung bei Erwachsenen gedachte Instrumente an Kindern eingesetzt werden. Vor drei Jahren habe er die EU-Kommission wegen des absehbaren Problems bereits angeschrieben, auch die gesamte Landesregierung habe sich seither mit zahlreichen Briefen, Gesprächen und Veranstaltungen für das Thema eingesetzt.

Brüssel erkennt das Problem

Anfang der Woche hatte Lucha anlässlich einer Sitzung des baden-württembergischen Kabinetts in Brüssel ein Gespräch mit Mitgliedern des Stabs von EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides geführt. „Ein Problembewusstsein ist vorhanden, ich habe einen Handlungswillen wahrgenommen“, berichtete Lucha. Es gebe aber einige EU-Mitgliedstaaten, „die für die notwendigen größeren Schritte nicht bereit“ seien. Baden-Württemberg ist als bedeutender Standort für Medizintechnik mit 400 Unternehmen besonders betroffen, auch Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) tritt stark für eine Änderung der Reform ein. Minister Lucha sagte, dass er sich auch vom Bundesgesundheitsministerium eine klare Positionierung wünsche: „Wir merken, dass wir aus Berlin auch von unserem Bundesgesundheitsminister noch nicht das Engagement sehen, das eigentlich notwendig wäre.“

Bewährte Produkte fehlen plötzlich

Wohl aus diesem Grund hat das baden-württembergische Staatsministerium dieser Tage einen Brandbrief an die gesundheitspolitischen Sprecher der drei Regierungsfraktionen im Bundestag verschickt. Unter dem Stichwort „Dringender Handlungsbedarf“ schildert Florian Stegmann, Chef der Staatskanzlei, dass mittlerweile aufgrund der entstehenden Engpässe Babys und Kinder „nicht mehr hinreichend versorgt“ werden: „Das muss umgehend korrigiert werden.“ Es seien aus „regulatorischen Gründen“ immer weniger spezielle Medizinprodukte wie Ballonkatheter und Stents für Kinder verfügbar, obwohl die sich jahrelang in der Praxis bewährt hätten. Zwar habe die EU-Kommission vor kurzem ein 19-Punkte-Papier mit potenziellen Maßnahmen genannt, um beispielsweise die Zahl der „Benannten Stellen“ – sie führen die Neuzertifizierung durch – zu erhöhen. Das reiche jedoch bei Weitem nicht aus. Stegmann: „Wenn die Medizinproduktehersteller jetzt nicht aus Brüssel das klare Signal für Erleichterungen erhalten, werden sie weitere Produkte vom Markt nehmen.“ Damit drohten weitere Engpässe in der Versorgung.

Ein Rückstau von 24.000 Zertifikaten

Das Staatsministerium schlägt der Bundesregierung und Brüssel vier Maßnahmen zu einer Abmilderung der Reform vor: Es müssten sofortige Lösungen für Nischenprodukte gefunden werden, die nur wegen ihrer geringen Stück- und Absatzzahlen und den hohen Zertifizierungskosten vom Markt verschwinden. Auch müsse es Erleichterungen geben für gut bewährte Bestandsprodukte, bei ihnen müssten vorliegende klinische Daten aus der ersten Zertifizierung auch für die erneute Prüfung anerkannt werden. Schließlich müsse die Kapazität der „Benannten Stellen“ erhöht werden. Laut Sozialministerium können diese Stellen jedes Jahr 6300 Zertifikate ausstellen, es bestehe jedoch ein Rückstau von 24 000 Zertifikaten.

Lucha hat bayerischen Kollegen an seiner Seite

Schließlich meint das Staatsministerium in seinem Brandbrief, es müsse eine Verlängerung der Übergangsfristen – die im Mai 2024 enden – in Betracht gezogen werden, falls sich der Flaschenhals der Zertifizierungen noch weiter verenge.

Sozialminister Lucha sieht im Ringen um eine Nachbesserung der Reform den bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) an seiner Seite. „Ich sehe auch erste zaghafte Bewegungen in Brüssel und einen echten Willen der Kommission. Das müssen wir unterstützen, um zu wirksamen Maßnahmen zu kommen .“ Die Bundesregierung spiele dabei eine wichtige Rolle.