Noch sind die Bagger nicht angerückt. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die Bauarbeiten auf dem Grundstück im Gablenberger Deyhleweg beginnen und das bisherige Gebäude abgerissen wird. Foto: Sebastian Steegmüller

Die Stadt hat den Bauantrag für ein Mehrfamilienhaus im Gablenberger Deyhleweg genehmigt.

Stuttgart-Ost - Kopfschüttelnd blickt Ioannis Vavelidis aus dem Fenster seines Schlafzimmers im Deyhleweg. Dass auf dem Nachbargrundstück bald die Bagger anrücken werden und ein Neubau entstehen wird, stört ihn nicht sonderlich. Auf den Abriss des alten Gebäudes hat er sich eingestellt. Dass die Stadt jedoch die Pläne eines Münchner Investors – wie berichtet soll ein Doppelhaus für 19 Familien entstehen – trotz mehrerer Einwendungen jetzt jedoch quasi uneingeschränkt genehmigt hat und bereits die ersten Holzfällarbeiten begonnen haben, verstehen er und seine Nachbarn nicht.

Die geplante Nutzungsart als Wohngebäude sei jedoch zulässig, sagt Stadtsprecherin Nora Lenz-Gaspary nach Rücksprache mit Experten des Baurechtsamts. „Die geplante Anzahl der Wohneinheiten ist aufgrund baurechtlicher Vorschriften nicht zu beanstanden.“ Das Grundstück liege im Gebiet der Baustaffel 3, also nach der Ortsbausatzung für die Stadt Stuttgart (OBS) in einem „gemischten Gebiet“.

Gemäß Paragraf 47, Absatz 1, der OBS dürfe die Gebäudehöhe dort nicht mehr als zwölf Meter und die Stockwerkszahl nicht mehr als drei betragen, an Straßen, die zwischen den Baulinien nicht mehr als elf Meter breit sind, nur acht Meter beziehungsweise zwei Stockwerke. „Eine Überschreitung der Gebäudehöhe und Stockwerkszahl ist nur bei einem untergeordneten Teilabschnitt des Gesamtgebäudes festzustellen“, so Lenz-Gaspary. „Eine Befreiung ist an dieser Stelle städtebaulich vertretbar und wurde daher erteilt.“ Ebenfalls seien die nachbarlichen Interessen gewürdigt worden. „Die Abstandsflächen gegenüber den Grundstücken aller Einsprechenden sind eingehalten.“

Einen Monat Zeit

Das Vorhaben zeige keine Ausprägung, die einen Verstoß gegen den Gebietserhaltungssatzungsanspruch nahelegt und könne daher nicht als rücksichtslos oder erdrückend in Bezug auf die Umgebung eingestuft werden. „Das geplante Gebäude auf einem ausreichend großen Grundstück stellt keinen städtebaulichen Fremdkörper dar und ändert auch nichts an der ruhigen Wohnlage. Vielmehr verträgt das Gebiet das geplante Vorhaben.“ Dem Anspruch auf Würdigung der nachbarlichen Interessen sei bei der Abwägung Rechnung getragen worden.

Zugleich verweist die Stadtsprecherin auf die Baugenehmigung, in der sich eine „ausführliche Auseinandersetzung mit den Einwendungen der Anwohner“ findet. Diese Entscheidung ist mittlerweile auch den Nachbarn zugestellt worden. Sie hätten nun einen Monat Zeit, „mit förmlichen Rechtsbehelfen“ gegen sie vorzugehen. „Widerspruch und Anfechtungsklage haben jedoch von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung. Wenn die Nachbarn den Baubeginn verhindern wollen, müssten sie parallel zum Widerspruch beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs stellen“, sagt Nora Lenz-Gaspary.

Klage eingereicht

Einen ganzen Monat haben sich die Anwohner nicht Zeit gelassen, um sich gegen die erteilte Baugenehmigung zur Wehr zu setzen. Mehrere Angrenzer, die oberhalb des Grundstücks wohnen, haben bereits die Stuttgarter Rechtsanwälte Christian und Matthias Goczol eingeschaltet. Ihr Ziel ist es, neben dem Widerspruch zunächst beim Verwaltungsgericht Stuttgart einen Baustopp zu erwirken. Die beiden Juristen teilen unter anderem die Einschätzung von Anwohner Vavelidis, dass die Tiefgarage Verkehrsprobleme im Deyhleweg nach sich ziehen wird. „Vor allem abends, wenn die Leute nach Hause kommen, wird es in der schmalen Sackgasse eng“, sagt der 43-Jährige. Wie eng, geht aus den Bauunterlagen hervor: Die 22 Stellplätze unter dem Neubau können nur über einen einzigen Autoaufzug erreicht werden. Außerdem ist dokumentiert, dass der Lift 60 Sekunden für einen Betriebszyklus benötigt. „Nicht nur in Stoßzeiten ist mit Staus zu rechnen“, so Christian Goczol, der auch Lehrbeauftragter für Bau- und Architektenrecht ist. Sobald ein Autofahrer im Deyhleweg auf den Aufzug wartet, geht auf und vor der kleinen Wendeplatte nichts mehr. „Die zwangsläufige Folge sind Lärm- und Abgasbelastungen, die den Angrenzern nicht zumutbar sind. Das Gebot der Rücksichtnahme ist eindeutig verletzt.“

Doch auch hier sieht man im Rathaus keine Probleme. „Die Tiefgarage und der Parklift sind aufgrund baurechtlicher Bestimmungen nicht zu beanstanden“, sagt Nora Lenz-Gaspary. Bei „bestimmungsgemäßer Nutzung“ seien keine unzumutbaren Einwirkungen auf die Nachbarn zu erwarten. „Die Tiefgaragen-Stellplätze entsprechen den Bestimmungen der Landesbauordnung für Baden-Württemberg.“

Karolin Hartmann, die unterhalb des Baugebiets wohnt und „über das Ausmaß der vom Baurechtsamt erteilten Befreiungen entsetzt ist, hat ebenfalls umgehend einen Anwalt eingeschaltet. Er hat bereits einen entsprechenden Widerspruch verschickt. Auch aus seiner Sicht verstößt das Bauvorhaben gegen zahlreiche Rechtsvorschriften, heißt es in dem 13-seitigen Anwaltsschreiben. Außerdem würden schwerwiegende Verfahrensfehler vorliegen. Unter anderem seien Bauvorlagen erst nach der Anhörung der Anwohner hinter ihrem Rücken ausgetauscht beziehungsweise angepasst worden. „Darüber hätten die Angrenzer zwingend in Kenntnis gesetzt werden müssen, was jedoch unterblieben ist“, so der Fachanwalt, der den Mitarbeitern des Baurechtsamts vorwirft, nicht auf alle Einwendungen der Anwohner eingegangen zu sein. Die Begründungen würden sich auf wenige Sätze beschränken. Für Verwunderung sorgt auch die auch von der Stadtsprecherin zitierte Formulierung, dass die „Überschreitung der Gebäudehöhe und Stockwerkszahl nur bei einem untergeordneten Teilabschnitt des Gesamtgebäudes festzustellen“ und daher „eine Befreiung städtebaulich“ vertretbar sei.

Wie schon in den Einwendungen zu dem Bauantrag beruft sich der Anwalt von Rita Hartmann auf den Rahmenplan für Halbhöhenlagen 2008, der nicht gewahrt werde. „Er stellt zwar keinen verbindlichen Bebauungsplan dar, ist aber dennoch eine bedeutende Leitlinie für die städtebauliche Entwicklung.“ Er habe nicht nur bauplanungsrechtliche Bedeutung, sondern auch abwägungsrechtliche Relevanz. Demnach solle jegliche zusätzliche Nachverdichtung in Halbhöhenlagen vermieden werden. Hier sei das genaue Gegenteil der Fall, so der Anwalt in dem Widerspruch weiter. Er ist der Überzeugung, dass das Bauvorhaben aufgrund seines erheblichen Kontrastes zur vorhandenen Wohnbebauung gebietsunverträglich sei. Allein der Höhenunterschied zwischen dem Baukörper und dem Nachbargrundstück mache die Dominanz zwischen dem geplanten Neubau und den Grundstücken der Nachbarn deutlich. Er gleiche einem Büroturm oder Wohnriegel und stelle eine unzumutbare Störung für die Angrenzer dar.

Ähnlich sieht es auch Rolf Gaßmann. Der Vorsitzende des Mietervereins Stuttgart spricht sich grundsätzlich für mehr Wohnraum und für ein verdichtetes Bauen aus. „Wegen der spezifischen Kessellage Stuttgarts muss beim Bauen aber immer auch Rücksicht auf das Stadtklima genommen werden. Gerade auch das mit Verkehr hoch belastete Gablenberg verträgt an seinen Hängen keine Gebäudekolosse, die als Riegel die Frischluftzufuhr abschneiden“, betont Gaßmann.