Abseits. In Darmstadt wird Mario Gomez durch Schiedsrichter Patrick Ittrich ein Tor aberkannt. Der VAR bestätigt wenig später die knappe Entscheidung. Foto: Baumann - Baumann

Was ist der Abspielimpuls? Wie entsteht eigentlich eine kalibrierte Linie? Der VAR liefert immer wieder neue Fragen, auf die der DFB Mario Gomez Antworten liefern will.

StuttgartMario Mario Gomez darf sich nach seinem Rundumschlag den Videoassistenten selbst im Kölner Keller umschauen. „Wir haben spontan gesagt: Wir laden Mario Gomez gerne ein, wenn er Interesse hat. Er kann gerne mal zu uns ins Video-Assist-Center kommen und sich das Ganze mal anschauen“, sagte Jochen Drees, Projektleiter Videobeweis beim DFB. „Wir können ihm gerne erklären, wie der Video-Assistent und die kalibrierte Linie funktionieren. Er ist herzlich willkommen!“

Tags zuvor hatte der Stürmer des VfB Stuttgart erneut kräftig gegen den VAR vom Leder gezogen. Ein aberkanntes Abseitstor hatte Gomez den Arbeitstag beim 1:1 in Darmstadt vermiest. Es war Gomez’ fünfter Abseitstreffer in den vergangenen drei Spielen. Dabei ging dieses Mal direkt die Fahne des Linienrichters hoch, die nur aus Wahrnehmung des Stürmers bestehende gleiche Höhe entlarvte der Video Assistent Referee (VAR) als Zentimeterentscheidung. „Ich bin froh, dass ich nicht noch fünf Jahre spielen muss“, sagt Gomez nach 15 Jahren im Profigeschäft. „So macht das keinen Spaß mehr“.

Früher war die Sache noch vergleichsweise einfach. „Abseits“, pflegte Hennes Weisweiler zu sagen, „ist wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt“. Gemeint war Günther Netzer, in den 70er Jahren ein Meister des Steilpasses. Doch das ist lange her, Weisweiler wäre vor wenigen Wochen hundert Jahre alt geworden.

Erstickte Emotionen

Im Jahr 2019 diskutiert die Fußballwelt anders über Abseits. Es geht um kalibrierte Linien und um den sogenannten Abspielimpuls. Wie Gomez hat auch VfB-Trainer Tim Walter schon freudvollere Tage als Fußballtrainer erlebt. Unabhängig von den Ergebnissen der Mannschaft sagt er mit leidvoller Miene: „Der VAR gibt dem Spiel, das wir lieben, einen ganz anderen Charakter.“

Tatsächlich erlebt man in den Stadien Woche für Woche fehlgeleitete oder erstickte Emotionen. Der Torjubel ist nicht mehr das, was er einmal war. Der Kölner Keller hat sich inzwischen als Synonym für Spaßverderber verselbstständigt. Dabei sollte durch die Einführung exakt ausgerichteter Linien beim Abseits alles gerechter werden. Schließlich galt auch unter Schiedsrichtern lange die Meinung: Beim Abseits wird es keinen Graubereich mehr geben. Nur noch Schwarz oder Weiß. Pustekuchen.

Denn offenbar wurde die Rechnung ohne Menschenhand gemacht, welche die Technik noch immer steuert. „Es ist wahnsinnig schwer, das Bild im richtigen Moment anzuhalten“, sagt Ex-FIFA-Schiedsrichter Knut Kircher. In welcher Millisekunde verlässt der Ball beim Abspiel den Fuß? Das ist die so entscheidende wie komplexe Frage. Laut den DFB-Richtlinien zählt dabei der „Abspielimpuls“, also jener Moment, in dem der Ball am Fuß und auf dem Weg ist, diesen zu verlassen. Eine Frage von Millisekunden, die kognitive Höchstleistungen des Linienziehers am Monitor erfordert.

Hochgeschwindigkeitskameras

Trotz diverser Hochgeschwindigkeitskameras des Anbieters Hawk Eye, die mit mehreren hundert Bildern pro Sekunde genaue Positionsdaten von angreifender und verteidigender Mannschaft liefern, kommt noch eine zweite Komponente ins Spiel: Die des betreffenden Körperteils, welches die rote Linie überschritten und im Moment der Ballabgabe näher am Tor ist als der Gegner. Als Regel gilt: Gemessen wird das am weitesten nach vorn reichende Körperteil. Mit Ausnahme der Arme natürlich, damit darf man schließlich kein Tor erzielen. Alles klar?

„Mit reinem Augenmaß würde man sagen: Gleiche Höhe, danke, erledigt. Und jeder Fan und Spieler würde es wohl auch so akzeptieren“, sagt Kircher. Doch reines Augenmaß, das war einmal. Genauso wie die alte Fußballer-Weisheit, wonach der Schiedsrichter immer recht hat. Jetzt hat die kalibrierte Linie immer recht.

„Der VAR wurde von allen Mannschaften der ersten und zweiten Liga abgesegnet“, ruft der frühere Schiedsrichter aus Rottenburg die Entstehungsgeschichte noch einmal in Erinnerung. „Dass es mittlerweile einen Videobeweis gibt“, sagt VfB-Coach Walter , „müssen wir so akzeptieren.“

DFB-Projektleiter Drees hat zu Beginn des Jahres selbst auf mögliche Fehler beim Anlegen der Linien hingewiesen. „Dass ein ungenaue Handhabung der Linien bei Athleten im Vollsprint zu verfälschten Ergebnissen führen kann, ist uns bewusst und wird jedem Video-Assistenten beim Training in Erinnerung gerufen“, sagte er damals. Doch die angekündigte „wöchentliche Schulung“ ist offenbar zwecklos. Weil auch der VAR nur Wahrscheinlichkeiten, aber nie hundertprozentige Genauigkeit liefern kann.

Was wohl Mario Gomez dazu sagt? Noch ist nicht bekannt, ob er der Einladung in den Kölner Keller folgt.