Notfallseelsorger im Einsatz: So wichtig wie Rucksack und Jacke ist das Signalschild für das Auto. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

„Die Einsätze, in denen es um Kinder geht, gehen einem immer besonders nahe.“

Von Elke Hauptmann

Stuttgart - Auszug aus dem Polizeibericht: „Ein zwei Jahre altes Mädchen hat gestern bei einem Verkehrsunfall in Feuerbach tödliche Verletzungen erlitten. Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorger kümmerten sich um die unter Schock stehenden Unfallbeteiligten.“

Einer, der in solchen Fällen gerufen wird, ist Pfarrer Hanns Günther. Er weiß: „Die Einsätze, in denen es um Kinder geht, gehen einem immer besonders nahe. Das berührt einen sehr, da kann man auch noch viel Erfahrung mitbringen“, sagt er mit warmer Stimme. Über das, was er alles schon erlebt hat, mag er nicht gern sprechen. Ja, es gebe Fälle, die unauslöschlich in Erinnerung blieben.

Günther war 24 Jahre lang Gemeindepfarrer in Gablenberg, seit 2013 koordiniert er den freiwilligen Einsatz der rund 30 Kollegen der evangelischen, katholischen, altkatholischen, methodistischen und baptistischen Kirche in der Landeshauptstadt. Er hält Kontakt zur Feuerwehr, bei der die Notfallseelsorge Stuttgart organisatorisch angesiedelt ist, und zu anderen Katastrophenschutzdiensten, zu städtischen Ämtern, zum Krisennotfalldienst und der Telefonseelsorge. Er selbst ist schon seit fast 17 Jahren Notfallseelsorger - seit 2001 in in Stuttgart das Angebot aufgebaut wurde. Die Bildung einer Notfallseelsorge geht zurück auf eine Vereinbarung der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Diözesen in Baden-Württemberg mit dem Innenministerium.

Die „Helfer für die Seele“ sorgen dafür, dass Menschen in akuten Lebenskrisen zwischen Blaulicht und Sirenen nicht allein gelassen werden. „Diese Aufgabe ist mir ans Herz gewachsen“, betont Hanns Günther. Auch wenn es nicht immer leichte Kost sei, mit der die Notfallseelsorger bei ihren 450 bis 500 Einsätzen im Jahr konfrontiert würden. „In den allermeisten Fällen geht es um den plötzlichen und unerwarteten Tod naher Angehöriger.“ In solchen familiären Ausnahmesituationen sei in erster Linie weniger die Aktivität des Seelsorgers gefragt, erzählt der 60-Jährige: „Die Hauptsache ist oft: Da ist jemand da, der die Not mit aushält.“

Allein sein, das sei in solchen Momenten das Schwierigste, ist Günthers Erfahrung. Doch gerade in der Großstadt gebe es kaum noch funktionierende soziale Netzwerke. „Wenn der Partner auf einmal stirbt, sind viele Menschen unglaublich einsam.“ Zum Beispiel nach erfolglosen Reanimationen, beschreibt er ganz rational einen typischen Einsatz: „Der Rettungsdienst zieht ab und muss die Menschen in dieser seelischen Notsituation zurücklassen. Ihre Arbeit ist beendet.“ Auch wenn Polizisten nach Suizid oder Unglücksfällen eine Todesnachricht zu überbringen haben, sind Notfallseelsorger vorsorglich mit dabei.

„Wir bleiben solange bei den Trauernden, solange es notwendig ist“, sagt Günther. Sie spenden nicht nur Trost und helfen mit Gebeten und Segenshandlungen, sondern erläutern auch behördliche Abläufe und geben wichtige Informationen darüber, was jetzt zu tun ist. Wenn es notwendig erscheint, bauen sie Brücken zu Beratungsstellen und Gemeindepfarrern vor Ort. Beendet ist der Einsatz, wenn deutlich ist, dass der Hilfebedürftige alleine oder in anderen guten Händen gelassen werden kann. „Eine langfristige Begleitung über die Situation hinaus können wir allerdings nicht leisten“, räumt Hanns Günther ein.

Angefordert werden die Notfallseelsorger über die Einsatzleitstelle der Rettungskräfte - wochenweise abwechselnd mit dem Kriseninterventionsteam der Johanniter Unfallhilfe. Auch Günther leistet regelmäßig Dienste - immer zwei Seelsorger sind sieben Tage lang in Bereitschaft. Sobald sich der kleine Funkmeldeempfänger und das Diensthandy melden - nicht selten mitten in der Nacht - greift er seinen Rucksack mit dem Plüsch-Teddybär, mit Keksen, Schokolade, Getränken, Zigaretten und Taschentüchern, zieht sich die gelb-blaue Jacke mit dem markanten Logo an, schnappt sich das Signalschild fürs Auto, setzt sich hinters Steuer und fährt zu der angegebenen Adresse. Zwar wird den Helfern kurz erklärt, was wo geschehen ist. Doch wer sie dort erwartet, ist unklar. „Wir wissen nie, was auf uns zukommt.“ Jede Situation sei neu, jede Begegnung anders. Wut, Verzweiflung, Ratlosigkeit - die Trauer habe viele Gesichter. „Jeder geht anders damit um.“

Welche Religion und Weltanschauung die betreuten Menschen haben, spielt in der Notfallseelsorge keine Rolle, sie ist ein ökumenisches Angebot der Kirche. „Es geht um die Menschen“, betont Hanns Günther. „Ich werde in solchen Situationen nicht primär als Kirchenvertreter wahrgenommen, sondern einfach als ein gläubiger Mensch. Ich habe auch schon bei Muslimen einen Segen für einen Verstorbenen gesprochen.“ Zu seinem Team würden im Übrigen nicht nur Pfarrer oder Diakone gehören, sondern ebenso speziell geschulte Fachkräfte aus dem psychosozialen und karitativen Bereich.

Notfallseelsorger bräuchten gute Nerven und psychische Stabilität, meint Günther. Er gibt offen zu: Einfach sei dieser Dienst nicht. Warum er sich das dennoch „antut“? Natürlich, weil er zu den ureigensten Aufgaben als Pfarrer gehöre. Vor allem aber „aus Mitleid im wörtlichen Sinne“, sagt der. „Ich selbst möchte in solchen Situationen auch nicht allein gelassen werden. Als Christ ist man hier gefragt.“ Und außerdem bekomme er von den Betreuten viel zurück: „Man erfährt in der Notfallseelsorge viel Dankbarkeit.“

Leiter der Notfallseelsorge ist Hanns Günther nur mit halbem Dienstauftrag. Mit einem weiteren halben Dienstauftrag gibt er Religionsunterricht am Stuttgarter Friedrich-Eugens-Gymnasium. Für den Pfarrer, der ursprünglich Lehrer werden wollte, eine glückliche Kombination.