Die Hausbesetzerszene war auch in Stuttgart aktiv, etwa in der Neckarstraße, der heutigen Willy-Brandt-Straße. Quelle: Unbekannt

Von Edgar Rehberger

Die Landeshauptstadt ist durch die Protestbewegung gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ international in den Fokus gerückt. Der Begriff „Wutbürger“ tauchte auf. Doch was war vorher? Der Eindruck einer verschlafenen Stadt trügt. „Da war einiges los“, berichtet Roland Müller, Direktor des Stadtarchivs. Von wegen spießiger Kesselmetropole: „Die Protestkultur in Stuttgart war schon immer sehr lebendig.“

Die Ausstellung „Kessel unter Druck. Protest in Stuttgart 1945-1989“ will einen ersten Überblick über die Protestgeschichte Stuttgarts geben. „Ich war schon länger am Thema dran.“ Bei einem Seminar an der Uni reifte die Idee zu einer Ausstellung. In dem Zeitrahmen - ab 1989 gab es in der Protestgeschichte einen Umbruch - sei eine Unmenge passiert. „Die Liste ist ellenlang.“ Manche Themen wie Wohnraum und Bildung seien immer noch aktuell. „Stuttgart ist nicht als Protesthochburg wahrgenommen worden.“ Bei der Studentenbewegung denkt man eher an Freiburg, Heidelberg und Berlin. „Es gab verschiedene Protestebenen.“ Es habe viele offen wahrzunehmende Proteste gegeben. „Der Druck im Kessel war deutlich.“

Die Bandbreite reichte von Einzelaktionen über Kunst-Happenings bis Sitzblockaden und Massendemos. Ob Teuerungsproteste nach der Währungsreform 1948, bei der Steine flogen und Tränengas zum Einsatz kam, oder Gewerkschaftskundgebungen in der 1950er Jahren - in der Stadt herrschte streitbares Klima. Im Zuge der Studentenunruhen von 1968 fanden in Stuttgart zahlreiche Demos, Sit-Ins und Kundgebungen statt. Viele bunte Aktionen thematisierten in den 70er und 80er Jahren das neue Bewusstsein für die Umwelt. Zur gleichen Zeit entwickelten sich im Streit um den Nato-Doppelbeschluss zahlreiche Proteste der Friedenbewegung, die in der legendären Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm am 23. Oktober 1983 ihren Höhepunkt fanden. Zudem gab es Anwohnerproteste in einzelnen Quartieren wie dem Bohnenviertel, diverse besetzte Häuser wie in der Neckarstraße und Protestinitiativen wie „Kaputtgart“, die sich gegen die Kommerzialisierung der Stadt richteten.

Die Frage war: Wie wird sortiert? „Eine Chronologie war nicht leistbar“, führt Kuratorin Inken Gaukel aus, „und wäre auch anmaßend.“ Es wurden drei Großbereiche gewählt: originäre Stuttgarter Probleme, gesellschaftliche Relevanz wie Berufsverbot, Homosexualität und globale Themen wie Vietnamkrieg, Nato-Doppelbeschluss, Ostermärsche 1962. „Welche Stadt/Gesellschaft/Welt wollen wir?“ steht daher über den jeweiligen Bereichen. Erste Fahrraddemos gab es 1979, um gegen die Fahrpreiserhöhungen zu demonstrieren. „Dabei sind wir auf tolle Plakate gestoßen“, berichtet Gaukel von der aufwändigen Recherche. Damals waren Transparente textlastig oder handgemalt. Besucher können die gestalterische Entwicklung verfolgen und interaktiv viele Details entdecken. Ein Spagat zwischen seriöser Information und atmosphärischer Ebene. Während heute auf den sozialen Medien selbst intime Details preisgegeben werden, wurde zur Volkszählung und 1987 gegen den gläsernen Bürger demonstriert. Mehr als 4000 Exponate finden sich in der sehenswerten Ausstellung, 90 Demos sind thematisiert. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Vortragsprogramm begleitet.

„Kessel unter Druck. Protest in Stuttgart 1945-1989.“ Ausstellung im Stadtarchiv, Bellingweg 21. 14. Dezember bis 4. Mai. Geöffnet Dienstag, Donnerstag, Freitag 9 bis 16 Uhr, Mittwoch 9 bis 18 Uhr. Eintritt frei.