Etwa zwölf Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Sie haben Schwierigkeiten, längere Texte zu verstehen. Foto: dpa/Jens Büttner - dpa/Jens Büttner

Allein in Baden-Württemberg gibt es laut der Landeszentrale für politische Bildung etwa eine Million funktionale Analphabeten unter den Erwachsenen. Viele haben sich Jahrzehnte lang mit Tricks und Ausreden beholfen.

Bad CannstattAllein in Baden-Württemberg gibt es laut der Landeszentrale für politische Bildung etwa eine Million funktionale Analphabeten. Das sind Menschen, die nur wenige Worte, nicht aber aufeinanderfolgende Sätze, lesen und schreiben können.

Das trifft auch auf Hans Späth (Name geändert) zu. Er habe sich in der Schule schwergetan und deshalb versucht, so viel wie möglich von seinem Sitznachbarn abzuschreiben. „Ich musste aber fast jedes Jahr wiederholen“, sagt der 52-Jährige. Nach neun Jahren – Späth war 16 Jahre alt – erlosch die Schulpflicht und er verdiente sein Geld als Hilfsarbeiter. Viele Jahre war er bei einem Büroartikelhersteller tätig, stieg im Unternehmen sogar auf. Doch lesen und schreiben konnte er immer noch nicht.

Um das zu ändern, nimmt Späth an einem Alphabetisierungskurs der Volkshochschule (VHS) am Standort in der Kreuznacher Straße teil. Die Anmeldung fiel ihm schwer: „Über die Jahre habe ich in meinem Kopf eine Mauer aufgebaut, konnte mir nicht eingestehen, dass ich etwas ändern muss“, sagt er. Zugeben, dass er Analphabet ist, wollte er nicht. Nur wenige Personen in seinem Umfeld wussten davon. Die haben ihn auch im Alltag unterstützt, ihm beim Ausfüllen von Dokumenten geholfen oder ihm Briefe vorgelesen. „In der Firma wusste aber niemand Bescheid“, sagt er. Das ging Jahrzehnte lang so. Schließlich hat ihn ein Freund dazu überredet, den VHS-Kurs zu besuchen. Heute – zehn Jahre später – ist Späth froh, dass er diesen Schritt gewagt hat.

Unterrichtet werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Alphabetisierungskurses von Birgit Kunzmann. Die pensionierte Grundschullehrerin hat sich auf Lese- und Rechtschreibförderung spezialisiert. In dieser Stunde steht der Buchstabe P auf dem Programm. „Pa, pe, pi, po, pu, pau, pei, pen, per“, sprechen die Männer und Frauen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren im Chor und lernen so den Klang der Silben. Anschließend werden vollständige Wörter geübt. Auf Arbeitsblättern sind kleine Bilder abgedruckt: ein Polizeiauto, ein Brautpaar, ein Gamsbart, ein Pinsel. Nun gilt es, zu erkennen, welches Motiv mit p geschrieben wird. Dazu buchstabieren die Männer und Frauen die Wörter auf eine spezielle Art und Weise. „Jeder Buchstabe hat bei uns ein Handzeichen“, sagt Kunzmann. Zum Beispiel tippen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim I mit dem Zeigefinger auf den Kopf. Beim R ähnelt die Geste der eines Trainers, wenn er einen Spielerwechsel anzeigt. Als nächstes wird ermittelt, ob das P im jeweiligen Wort groß- oder kleingeschrieben wird. „Alles, was man anfassen kann, wird großgeschrieben, wie zum Beispiel Pinsel“, sagt Kunzmann. Früher wäre diese Übung für Späth unmöglich gewesen. „Das einzige, was ich schreiben konnte, war mein Name“, sagt er.

Genauso erging es Lisa Sohn (Name geändert). Richtig lesen und schreiben hat sie nie gelernt, vor allem letzteres fällt ihr sehr schwer. Irgendwann sei sie in der Schule einfach nicht mehr mitgekommen. Aus Scham hat die 38-Jährige das Problem viele Jahre vor sich hergeschoben. Lesen und schreiben im Erwachsenenalter zu lernen, war für Sohn lange undenkbar. Stattdessen habe sie sich lieber mit Ausreden beholfen. Etwa, wenn es um das Ausfüllen der Anamnesebögen beim Arzt ging, in denen der Patient über Vorerkrankungen Auskunft gibt. „Ich habe gesagt, ich hätte meine Brille vergessen. Die Arzthelferinnen haben mir dann geholfen“, sagt sie. Im Laufe der Jahre seien ihr die Ausreden jedoch immer unangenehmer geworden. Zwar werde sie im Alltag von ihren beiden Töchtern unterstützt, doch ständig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, sei dauerhaft eine Belastung.

„Zuzugeben, dass man nicht richtig lesen und schreiben kann, fällt in Deutschland vor allem Muttersprachlern schwer“, sagt Kunzmann. Denn die meisten Menschen gehen davon aus, dass alle, die hier geboren und aufgewachsen sind, das können. Als funktionaler Analphabet Arbeit zu finden, werde dagegen immer schwerer. Denn selbst für einfachste Tätigkeiten müssen die Angestellten in einer digitalisierten Arbeitswelt lesen und schreiben können, sagt sie.

Hilfe für Analphabeten

Das Alfa-Telefon mit kostenloser und anonymer Beratung ist unter der Rufnummer 0251/533344 erreichbar.

Wie die Beratung per WhatsApp funktioniert, kann nachgelesen werden unter www.alfa-telefon.de/whatsapp-beratung/

Infos gibt es auch beim Bundesverband Alphabetisierung im Internet unter www.alphabetisierung.de.