Bücher öffnet euch: Bezirksvorsteher Bernd-Marcel Löffler liest den Schülern der Klasse 4b „Urmel aus dem Eis“ vor. Foto: Andrea Eisenmann - Andrea Eisenmann

Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, sind Studien zufolge erfolgreicher in der Schule. An der Martin-Luther-Schule griffen gestern allerdings vor allem erwachsene Besucher zu Büchern.

Bad CannstattAllein ist Bernd-Marcel Löffler an diesem Morgen nicht. Seine Begleiter heißen Urmel, Schusch, Wutz, Professor Habakuk Tibatong, Ping, Wawa und Seele-Fant. Gut verpackt zwischen zwei Buchdeckeln hat er diese in das Zimmer der Klasse 4b „eingeschleust“. Dort wird Cannstatts Bezirksvorsteher in den kommenden 45 Minuten die Protagonisten aus dem Kinderbuch „Urmel aus dem Eis“ von Max Kruse zum Leben erwecken. Mit verstellter Stimme und perfekt imitierten Sprachfehlern. Als Löffler nach knapp einer halben Stunde in die Runde blickt und fragt, ob er weiterlesen soll, bekommt er ein schallendes „Ja“ zur Antwort.

Zum fünften Mal beteiligt sich die Martin-Luther-Schule an dem bundesweiten Vorlesetag. 18 „Paten“ aus dem Stadtbezirk wurden dafür von Organisator Kai Schrinner zusammengetrommelt. Zu den Vorlesern gehören engagierte Eltern ebenso wie Vertreter verschiedener Einrichtungen. Jede der knapp 20 Klassen kommt so in den Genuss ihrer eigenen Geschichte. „Der Vorlesetag hat sich an der Schule etabliert und ist zum Selbstläufer geworden“, stellt Elternbeirat Schrinner zufrieden fest. Viel Überzeugungsarbeit musste er deshalb nicht mehr leisten. Und auch die Vorlesepaten haben sich einiges einfallen lassen, bringen neben dem Buch zum Teil auch Gegenstände mit in die Klasse, um die Stunde abwechslungsreich zu gestalten. „Sie leben es“, sagt Kai Schrinner. Historiker Olaf Schulze zum Beispiel, der sich für die „Kalendergeschichten“ von Johann Peter Hebel entschieden hat, lässt die Viertklässler beim „Seltsamen Spazierritt“ den Text nachsprechen und -spielen. Vorlesepatin Sandy Brunzel, die beruflich im Verlagswesen tätig ist, kann ihren kleinen Zuhörern aus Klasse 1 einiges darüber erzählen, wie ein Kinderbuch entsteht. Ihr „Favorit“ an diesem Tag: „Petterson und Findus ziehen um“. „Die Bilder haben die Kinder besonders interessiert. Viele Schüler meinten, dass es toll wäre, wenn ihr Haustier auch sprechen könnte.“

Und was sagt die Statistik? Kinder und Jugendliche lesen heute nicht weniger als früher. Trotz Smartphone. Trotz Computerspielen. Trotz Tablet. Allerdings: In etwa jeder dritten Familie in Deutschland bekommt der Nachwuchs von seinen Eltern zu selten oder nie vorgelesen. Vor allem Väter sind Büchermuffel. 58 Prozent von ihnen scheuen sich davor, Kindern vorzulesen, ist der jüngsten Studie der „Stiftung Lesen" zu entnehmen. Dabei ist der positive Einfluss nicht zu unterschätzen. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, verfügen laut Experten über einen deutlich größeren Wortschatz als Gleichaltrige ohne diese Erfahrung, sie haben im Schnitt bessere Noten und später mehr Spaß am Selbstlesen und im Umgang mit Texten.

Kurz vor 11 Uhr klappt Bernd-Marcel Löffler das Buch zusammen und wartet auf Reaktionen. Bereits die erste Frage beweist, dass der Vorlesetag bei den jungen Zuhörern bestens ankommt. „Liest Du uns nächstes Jahr wieder vor?“, will ein Schüler vom Bezirksvorsteher wissen.