Anja Frey hat bei ihrer Arbeit am Hauptbahnhof Stuttgart täglich mit Hunderten von Menschen zu tun. Auch wenn sie bei manchen Worten manchmal stottert, nimmt sie sich die Zeit, die sie braucht. Fotos: Gökalp Quelle: Unbekannt

Die Gedanken wissen, was sie sagen wollen, doch der Mund gehorcht einfach nicht: Menschen, die stottern, haben ein Leben voller Herausforderungen. Die Cannstatterin Anja Frey stottert von Kindesbeinen an. Heute setzt sie sich dafür ein, dass die 800 000 Betroffenen in Deutschland mit ihrer Sprechstörung von der Gesellschaft akzeptiert werden. Morgen ist der Tag des Stotterns.

Von Erdem Gökalp

Anja Frey sitzt hinter dem Schalter der Deutschen Bahn am Stuttgarter Bahnhof. Tagtäglich hat sie mit Hunderten von Menschen zu tun. Sie gibt Reisenden Auskünfte, sucht Verbindungen für sie heraus und beschreibt den Weg zu den Gleisen. Was daran so außergewöhnlich ist: Frey macht diesen Job - trotz einer Sprechstörung. Bei bestimmten Worten fängt sie an zu stottern. Während ihre Gedanken weiter spinnen, kriegt sie das Wort nur mit größter Mühe heraus. Bei bestimmten Worten hat sie besonders große Schwierigkeiten. Wenn sie jemandem den Weg zum Gleis „drei“ beschreibt, bekommt sie häufig einen „Block“ - wie der Fachbegriff dafür lautet.

Ihr Stottern hat sie jedoch nicht davor abgeschreckt, einen Beruf zu wählen, bei dem sie mit vielen Menschen reden muss. Damit ist sie eine Ausnahme. Meist vermeiden Betroffene, in der Öffentlichkeit zu reden und ziehen sich aus der Gesellschaft zurück. Doch für Anja Frey ist ihre Arbeit gleichzeitig eine Therapie. Als sie Mitte der 90er-Jahre ihre Ausbildung begann, wurde sie sogar für einige Zeit für den Telefonservice der Deutschen Bahn eingeteilt. „Ich hatte mir immer gewünscht, dass ich von meinem Arbeitgeber geschont werde, doch ich wurde behandelt wie jeder andere auch.“ Die harte Schule war im Rückblick die beste Hilfe, um am normalen Leben teilzunehmen.

„Viele Stotternde versuchen, ihre Problemwörter zu umgehen oder reden generell wenig“, sagt sie. Manche suchen nach Synonymen, die sich leichter aussprechen lassen. Andere wiederum werden einfallsreich. Beispielsweise kaufen sie beim Bäcker ein Vollkornbrötchen statt einer Brezel, weil sie das „z“ in dem Wort nicht aussprechen können. „Vor allem Kinder finden immer einen Weg, nicht reden zu müssen. Beim Vorlesen täuschen sie Bauchschmerzen vor oder gehen genau zum richtigen Zeitpunkt auf die Toilette.“

Bei Anja Frey ist es mittlerweile anders. Sie geht selbstbewusst damit um. „Ich nehme mir inzwischen die Zeit, die ich brauche, um die Wörter auszusprechen.“ Und das, obwohl sie durch verschiedene Sprachtrainings Methoden gelernt hat, das Stottern zu umgehen. Beispielsweise mit einem weichen, betonten Einstieg in das Wort. „Das ist mir jedoch zu anstrengend.“

Warum genau ein Mensch stottert, ist noch immer unklar. Das Zusammenspiel von linker und rechter Gehirnhälfte funktioniert meist nicht. Oft ist es auch vererbbar. „Meine Mutter hat gestottert und meine Kinder auch, als sie klein waren.“ Beim Nachwuchs lässt sich durch Sprachübungen das Stottern in einigen Fällen behandeln. Doch spätestens nach der Pubertät ist eine „Heilung“ fast ausgeschlossen. Anja Frey geht es schon lange nicht mehr darum, die Ursache für das Stottern herauszufinden. Ihr ist es wichtig, damit zu leben und sich selbst zu akzeptieren. „Ich sage es eben auf meine Weise.“

Seitdem sie 16 Jahre alt ist, besucht sie eine Selbsthilfegruppe, die sie nun auch leitet. Die Mitglieder treffen sich regelmäßig und tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. „Niemand muss reden. Oft verstehen sich Stotternde ohne Worte“, sagt sie. So haben sie bestimmte Angewohnheiten, die für Außenstehende schwer nachvollziehbar sind. „Wenn wir mit unserer Gruppe gemeinsam essen gehen, dann bestelle ich als Erste und stottere absichtlich viel.“ So kann jemand, der schüchterner ist, direkt nach ihr bestellen und ihm ist ein wenig die Angst vor dem Sprechen genommen. Frey wird für die Bundesvereinigung „Stottern & Selbsthilfe“ auch morgen, am Tag des Stotterns, am Hauptbahnhof Stuttgart zugegen sein, um mit Menschen über das Stottern zu reden.

Bei ihrer Arbeit hat sie bisher nie schlechte Erfahrung gemacht. Nur einmal wurde es brenzlig: „Ein Mann mit einer Sprechstörung kam an meinen Infostand. Als er mich stottern hörte, dachte er, dass ich mich über ihn lustig mache.“ Sie sagte ihm dann, dass sie dasselbe Problem wie er habe. Und plötzlich hatten die beiden Fremden eine Gemeinsamkeit. „Es hat ihm in dem Moment Kraft gegeben, als er sah, dass man mit Stottern jeden Beruf ausüben kann.“

Infos

In Deutschland stottert ein Prozent der Bevölkerung.

Meist funktioniert das Zusammenspiel von rechter und linker Gehirnhälfte im Moment des Sprechens nicht.

Man sollte keine Rückschlüsse auf Intelligenz oder Persönlichkeit ziehen, nur weil jemand stottert.

Nach der Pubertät ist eine klassische Heilung unwahrscheinlich, Kinder kann man leichter behandeln.

Wenn jemand stottert, sollte man die Person ausreden lassen und nicht etwa die Sätze für sie beenden oder sie unterbrechen.

Ein offener Umgang hilft dabei, die Worte auszusprechen.

Am morgigen Tag des Stotterns wird an allen deutschen Bahnhöfen ein zehnsekündiges Video der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe zu sehen sein.

Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Stotternden ist etwa eins zu vier.

Stottern beginnt meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren.

Stotternde sprechen flüssig, wenn sie flüstern, im Chor sprechen, singen und wenn sie ihre eigene Stimme nicht hören können.

Einige berühmte Stotternde waren: Bruce Willis, George VI. (Vereinigtes Königreich), Isaac Newton, Charles Darwin, Scatman John, Rowan Atkinson, Marilyn Monroe, John Updike (Schriftsteller).

Die Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe ist die Interessenvertretung stotternder Menschen in Deutschland, sie wurde 1979 gegründet.