Die Gipsköpfe helfen ihm auch nicht mehr weiter: Wolfgang Michalek als „Steppenwolf“ Harry Haller mit Foto: JU - JU

Aus Nabelschau wird Gesellschaftkritik: Philipp Becker bringt Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“ im Stuttgarter Schauspielhaus auf die Bühne.

StuttgartIn Rage zertrümmert der Autor und Lebenskünstler Harry Haller die Gipsbüste des Dichterfürsten Goethe. Längst hat das klassische Ideal für ihn seine Strahlkraft verloren. Zornig steht der Künstler, der in einer tiefen Lebenskrise steckt, im „Steppenwolf“ nach Hermann Hesse vor der goldgerahmten Guckkastenbühne im Stuttgarter Schauspielhaus. Die alten Ideale greifen nicht mehr. Tief lässt Wolfgang Michalek die Zuschauer in die verletzte Seele des Literaten Haller blicken, der sich wie Hesse selbst um seinen 50. Geburtstag mit Suizidgedanken quält. Der Regisseur Philipp Becker wagt am Stuttgarter Staatsschauspiel mit der dynamischen Bühnenfassung des Hamburger Thalia-Intendanten Joachim Lux einen reizvollen Spagat zwischen autobiografischer Nabelschau und kritischem Blick auf die Gesellschaft.

Im Melchinger Theater Lindenhof hat der 38-Jährige seine ersten Regie-Erfahrungen gemacht, dann an der Falckenberg-Schule in München studiert. Seitdem inszeniert er an vielen Häusern und ist stellvertretender Leiter des Schauspiel-Studiengangs an der Züricher Hochschule für Darstellende Kunst. Becker setzt nicht auf spektakuläre Bilder und Knalleffekte, wie das so viele im Regietheater seiner Generation tun. Mit drei Spielern und einem Chor, der Harry Haller mit zentralen Fragen seines Lebens konfrontiert, kitzelt er Hesses Gesellschaftskritik heraus, die der Dichter in dem 1927 entstandenen Werk in poetischen Sprachbildern formulierte. Hesse, der vor dem Theologiestudium im Kloster Maulbronn ebenso flüchtete wie vor der Bürgerlichkeit seines schwäbisch-pietistischen Umfelds, offenbart in dem Schlüsselroman in grandiosen Bildern, wie sein alter Ego in der bewegten Zeit zwischen den Kriegen zerrieben wird. Kühl, fast eine Spur zu rational führt Michalek die Hauptfigur ein. Dann heult er wie ein Wolf, plötzlich und unvermittelt wird er zum Tier. Das ist mehr als ein komischer Kunstgriff. In einer zerfallenden Welt bleibt dem Intellektuellen kaum mehr als der Rückzug in die Einsamkeit der Steppe. Vor dem bürgerlichen Wohnzimmeridyll mit Barwagen und Zimmerpflanze, das Bühnenbildnerin Bettina Pommer geschaffen hat, kitzelt Michalek das subversive Potenzial des „Steppenwolfs“ heraus, der 1968 zum Idol der Hippie-Bewegung aufstieg. Klug lässt er sich die amüsanten Passagen auf der Zunge zergehen, bringt das Publikum so zum Lachen.

Im biederen braunen Jackett, von Kostümbildnerin Katharina Müller bewusst spießig ausgewählt, peitscht der wandelbare Michalek seine Figur an Grenzen ihres beschränkten Kulturbegriffs. Um seinen Horizont zu weiten, lässt sich Harry von der schönen Hermine in das „magische Theater“ einführen, das der Musiker Pablo betreibt. Da erscheint ihm das Musikgenie Mozart im Morgenmantel. Der Weg zum wahren Wesen des Genies bleibt ihm jedoch versperrt.

Kunstvoll spalten Regisseur und Bühnenbildnerin die vergoldete Guckkastenbühne mit dem vor Bürgerlichkeit triefenden roten Vorhang in viele kleinere Bühnen auf, die schließlich im Horizont verschwinden. In diesem surrealen Raum zieht Viktoria Miknevich als Hermine den am Leben verzweifelten Dichter in ihren Bann. In Johannes Hoffmanns musikalischem Traumraum klingt ihr Gesang fast überirdisch. Bewusst geht die Schauspielerin mit dem sinnlichen Timbre in der Stimme aber auf Distanz zu Harry Haller. Sie bleibt ein Sehnsuchtsbild für den Dichter, der im engen Gefängnis seiner Gedanken steckt. Die erotische Anziehung setzt Miknevich immer wieder ein, um sie im letzten Augenblick zurückzunehmen. Felix Mühlen in der Rolle des Musikers und Magiers Pablo wiederum zieht künstlerische Vorbilder Harry Hallers zu sehr ins Lächerliche, als dass der Diskurs über einen Kunstbegriff zu Ende gedacht werden könnte. Da vertut der Schauspieler viel vom Potenzial seiner Rolle, die den Schlüssel zu Hallers psychischem Universum in Händen hält.

Wie nah dagegen Michalek und die Choristen, die anfangs sogar im Publikum sitzen, den eher antiquierten Protagonisten Hesses an heutige Erfahrungswelten heranholen, ist überzeugend; und sogar packend, etwa wenn der kahlköpfige Spieler das Mikro greift und Hesses Kriegsszenarien wie in einem Poetry Slam schmettert: „Überall lagen Tote und Zerfetzte herum, überall auch zerschmissene, verbogene, halb verbrannte Automobile…“ Den Kampf zwischen Mensch und Maschine empfindet Michalek mit seinem körperbetonten Spiel nach.

Regisseur Becker lädt Hesses Roman nicht mit konstruierten Bezügen zur Aktualität auf. In seiner klaren Lesart kommt aber das gesellschaftskritische Potenzial des Dichters, der wegen seines Indien-Faibles und seiner Nähe zur Lebensreformbewegung oft in die Ecke des Spirituellen gedrängt wurde, treffend zum Tragen.

Die nächsten Vorstellungen: 17., 25. und 27. März, 4., 9., 18. und 20. April, 14., 16. und 26. Mai.