Von Dietholf Zerweck

Herrenberg - Wenn im Psalm 119 von der „gottlosen Rotte“ die Rede ist und der Psalmist klagt: „Die Stolzen haben ihren Spott an mir“, dann lässt Heinrich Schütz die Koloraturlinien in Erregung auffahren. Es ist schon bezeichnend, wie oft in diesem mit 176 Versen in 11 Kapiteln längsten Psalm des Alten Testaments von Widersachern, Feinden, Verfolgern die Rede ist, der Beter scheint ständig im Kampf, Streit, in Bedrängnis von inneren und äußeren Mächten zu sein.

Wohl möglich, dass der greise, 86-jährige Heinrich Schütz, als er 1671 mit der Komposition seines „Schwanengesangs“ begann, die Gräuel und Schrecken des Dreißigjährigen Krieges wieder vor Augen hatte, der 1648 zu Ende gegangen war und dessen Friedensschluss er in seinen „Symphoniae sacrae“ gefeiert hatte. In der Doppelchörigkeit und dichten, variantenreichen Melodik und Kontrapunktik dieser elf Motetten, denen Schütz noch eine lichte Vertonung des 100. Psalms („Jauchzet dem Herrn, alle Welt“) und ein „Deutsches Magnificat“ folgen lässt, ist jedenfalls ungeheuer viel Binnenspannung enthalten - und diese wurde vom Dresdner Kammerchor und einem exquisit besetzten Instrumentalensemble unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann mit großartiger Anschaulichkeit und Präzision gestaltet.

Diese letzte monumentale Komposition ist zugleich Rückschau auf die Tradition und das eigene, von Giovanni Gabrielis venezianischer Mehrchörigkeit inspirierte Schaffen und kunstvolle Summe eines Lebenswerks. Unter den prächtigen Schlusssteinen des von hohen Pfeilerbündeln getragenen gotischen Netzrippengewölbes der Herrenberger Stiftskirche, wo das Musikfest Stuttgart an diesem Abend gastiert, kann sich der farbige Klang dieses „Schwanengesangs“ wunderbar entfalten. Von einem der Solisten vorgetragen, eröffnet jeweils ein gregorianischer Psalmton die einzelnen Motetten, in dem das von Dorothee Mields und Gerlinde Sämann angeführte Favorit-Oktett im Dialog mit dem doppelt so groß besetzten Dresdner Kammerchor das musikalische Geflecht ausbreitet. Ungeheuer variabel sind die Klangfärbungen der Begleitinstrumente, bei den Tutti-Einsätzen oft mit Zink, Posaunen und Dulzian verstärkt, in den solistischen Teilen von den drei Gambistinnen, Theorbe, Violone und Orgel umspielt. Rademann formt diese Klänge außerordentlich affektreich und transparent, immer ausgerichtet auf den strahlenden, klangmächtigen Höhepunkt jeder Motette, die dann jedes Mal mit einem einzigartig komponierten „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und auch dem Heiligen Geiste“ abschließt.

Gegenüber der Formenvielfalt, Klangfülle und kunstvollen Polyphonie der Motetten des 119. Psalms lässt Rademann den Lobpreis des 100. Psalms leichtfüßig, mit geschwinden, schwerelosen Koloraturen sich entwickeln. Beim „Magnificat“ setzt dann sofort der ganze Chor mit einem prachtvollen „Meine Seele erhebt den Herrn“ ein, und auch der Lobpreis des „Ehre sei dem Vater…“ am Ende ist vom gregorianischen Psalmton befreit. Heinrich Schütz‘ „Opus ultimum“ wurde in der bis auf den letzten Platz gefüllten Herrenberger Stiftskirche mit dem Dresdner Kammerchor zum überwältigenden Erlebnis.

heute beim musikfest in stuttgart

11 Uhr, Staatsgalerie: Radikal im Glauben: Luther und der Großinquisitor. Führung mit Catharina V. Wittig.

13 Uhr, Stiftskirche: Johann Sebastian Bach: Kantaten „Liebster Gott, wenn werd ich sterben“ BWV 8 und „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“ BWV 136. Gaechinger Cantorey, Leitung: Hans-Christoph Rademann.

15 Uhr, Café im Hospitalhof: Henning Bey im Gespräch mit Bachakademie-Intendant Gernot Rehrl.

19 Uhr, Wizemann (Quellenstraße 7, Bad Cannstatt): Alehouse Session. Improvisiertes, Folkloristisches und Komponiertes aus englischen Pubs des 17. Jahrhunderts mit dem norwegischen Ensemble Barokksolistene, Leitung: Bjarte Eike.