Bergende Fruchtblase im Ausgesetzten der Landschaft: Yena Youngs „Zeitzelt“. Foto: Interim Festival Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Grabenstetten - Die Kelten mochten’s kalt. Zugig kann es werden und verdammt schattig im Heidengraben auf der Schwäbischen Alb, wo das vorchristliche Volk eine seiner größten Siedlungen anlegte. Heute ist das Gebiet zwischen Grabenstetten, Erkenbrechtsweiler und Hülben ein Terrain für Archäologen. Und was finden sie dort? „Leid“, sagt der Archäologe und hält uns einen schlichten Feldstein vor die Nase. Wie bitte? Nun, Udo Rau ist kein akademischer Gräber und Schürfer, sondern spielt ihn nur - im Zustand fortgeschrittenen Sinnierens über fortwährenden Untergang, die Vergänglichkeit dessen, was war, ist und sein wird. Die Spuren einstigen Lebens bezeugen nur noch abstrakte Zahlenkolonnen - die Signaturen der Fundstücke.

Langer Marsch durch die Intuitionen

Mit seiner Performance ist der Schauspieler Rau ein Teil des aktuellen Interim-Festivals. Nach dem Projekt 2013 im Alten (Militär-)Lager bei Münsingen hat Interim jetzt, inzwischen unter dem Zusatz „Kulturhandlungen“ der künstlerischen Belebung der Alb verpflichtet, einen „Parcours“ durch den Heidengraben gelegt: ein Kunst- und Theatermosaik, das sich die Zuschauer beim langen Marsch durch die Intuitionen auf Feld, Wald und Wiese selbst zusammensetzen. Dort harren 15 Kunst- und Performance-Stationen des frei schweifenden Wanderpublikums, das sich pünktlich zu Sonnenuntergang wieder im zentralen Zelt-Pavillon einzufinden hat - auf dass ja niemand in der Dunkelheit verloren gehe. Was dem Leit- und Leidmotiv des „Parcours“ entspricht: dem Suchen und Schürfen in der Vor- und Zeitgeschichte des Alb-Raums und -Traums samt der ängstlichen Erfahrung unwiederbringlichen Verlusts. Die Melancholie des Vergehens und Vergessens zieht sich als verbindender Faden durch die Aktionen, zu denen in der Gesamtleitung von Ulrike Böhme die Komponistin und Autorin Susanne Hinkelbein einen Großteil der Musik und der Texte schrieb.

Unter Via Lewandowskys kunstinstallierter Baggerschaufel lässt Hinkelbein den antiken Philosophen Thales (Stefan Viering) nach letzten Wahrheiten loten, während er die naheliegendsten, verkörpert von einer kecken schwäbischen Magd (Barbara Stoll), nicht erkennt. In Yena Youngs transparentem „Zeitzelt“, gleichsam eine bergende Fruchtblase im Ausgesetzten der Landschaft, werden von Hinkelbein collagierte Sehnsuchtstexte aus einem Gipfelbuch rezitiert. Und Benoit Maubrey bringt mit Lautsprecherboxen in Ackerfurchen die Älbler selbst zu breiter Dialektsprache: Die Tonbanddokumente aus den 60er-Jahren künden von Erinnerungen an harte (Kriegs-)Zeiten und einen dörflichen Alltag jenseits zivilisationsmüder Idyllen.

Dass die Furie des Verschwindens nicht nur eine Gestalt unerbittlicher Geschichte, sondern auch krimineller Gegenwart sein kann, musste Christian Hasuchas filigraner Holzschriftzug „mittlerweile“ erdulden: Er wurde in einem Akt des Vandalismus zerstört.

Bewegt und nachdenklich, fasziniert und bisweilen auch amüsiert kehrt man, an einer schwäbischen Sphinx (Ursel Bernlöhr) und ihren Rätseln vorbei, zurück in den Pavillon. Dort lassen in Hinkelbeins „Heureka!“ die Akteure musikalisch Revue passieren, was sie gesucht und - der Titelironie zum Trotz - nicht gefunden haben: weder Wahrheit noch Glück noch sich selbst. Die Suche geht weiter.

Der „Parcours“ mit den Performances kann noch beschritten werden am heutigen Samstag (Beginn: 17.30 Uhr) sowie täglich vom 29. September bis zum 1. Oktober (Beginn jeweils um 17 Uhr). Karten gibt es an der Abendkasse sowie im Vorverkauf über die Interim-Homepage (siehe unten). Die Kunstinstallationen ohne Performances können täglich außer montags und außerhalb der Vorstellungszeiten kostenlos besichtigt werden.

Das Festivalgelände liegt zwischen Grabenstetten und Erkenbrechtsweiler. Die Zufahrt ist ab Grabenstetten ausgeschildert.

www.interim-kulturhandlungen.de