Lena Sutor-Wernich spielt die Esther in „Das denkende Herz“. Foto: Forum-Theater - Forum-Theater

Adaption ausgewählter Texte Hillesums bei der Uraufführung im Forum-Theater

StuttgartChronistin ihrer Zeit wollte sie sein. Doch wie schreiben, wenn die Zeit aus den Fugen geraten ist? Frei nach den Tagebüchern der Esther Hillesum (1914-1943) erlebte das Publikum am Sonntagabend bei einer Uraufführung im Forum-Theater die Adaption ausgewählter Texte Hillesums in einem fordernden, anspruchsvollen Musiktheaterstück von beeindruckender künstlerischer Qualität.

Lena Sutor-Wernich ist Esther, genannt Etty, eine sich zwischen Höchstanspruch und Selbstzweifeln bewegende junge Autorin, emanzipatorisch und verspielt. „S.“ ist ihr emotionaler Bezugspunkt: ein verheirateter Mann, den sie herbeisehnt und der als stummer Maskenträger ihre klaustrophobische Einsamkeit für Momente durchbricht.

Werke der Weltliteratur türmen sich auf einem Podest in fragiler Anordnung. Sie rutschen durcheinander, als die Nazis in Holland einmarschieren. Marco Bindelli kommentiert die Katastrophe mit Kaskaden auf dem Konzertflügel. Seine Kompositionen für Piano, Gong und kleine Harfe aus dem Vokabular der Neuen Musik haben ebenso starke Illustrationskraft wie Sutor-Wernichs Gesangspartien, die sie mit Sprechsequenzen wechselt.

Nichts verspricht an diesem Abend in der Regie von Ingeborg Waldherr wohlig oder stabil zu sein. Inspiriert von Daniel Libeskinds Entwurf „Between the Lines“ zum Jüdischen Museum Berlin, hat Silvio Motta die kleine Bühne mit simulierten fallenden Wänden ausgestattet. Gelbe Fußbodenstreifen führen von der Bühne durch den ansteigenden Zuschauerraum bis zum Piano. Lena Sutor-Wernich, meist barfuß und in ein zartes, feminines Gewand gekleidet, stellt die Gottesfrage, singt mit sanftem Mezzosopran in starker Selbstbehauptung von der Macht der Liebe. Sie allein muss den Hass besiegen, wenn es Zukunft für die Menschheit geben soll. Hinter der Bühne grollt der Krieg, stumme Diener in stilisierten Uniformen bringen Botschaften. Humor blitzt auf, wenn Ettys Vater in einem Schreiben das aktuelle Fahrradfahrverbot der Nazis für holländische Juden mit einem Rückgriff auf die jüdische Geschichte kommentiert: „In der Wüste mussten wir auch 40 Jahre ohne Fahrrad auskommen.“

Später flattert der Deportationsbefehl in Esthers Leben. Die junge Intellektuelle teilt das Schicksal ihres Volkes; 1943 wird sie in Auschwitz-Birkenau ermordet. Der Luxemburger Olivier Garofalo hat die umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen (1981 unter dem Titel „Das zerstörte Leben“ in niederländischer, 1983 in Deutschland als „Das denkende Herz der Baracke“ in deutscher Sprache veröffentlicht) knapp gefasst. Erinnert wird an eine fast übermenschlich standhafte Frau. Der Tod von Esther Hillesum erinnert im Forum-Theater in keiner Sequenz an die Millionen Toten, die in den Konzentrationslagern umkamen.

Nochmals vom 25. bis 27. Januar