Die dänische Gruppe Teaterrødderne im Esslinger Schauspielhaus. Foto: Ines Rudel - Ines Rudel

Mit der dänischen Truppe Teaterrødderne feierte das europäische Seniorentheaterfestival in Esslingen einen grandiosen Auftakt. Die vielen kleinen Szenen ihres Stück „Stiller Lärm“ handeln von Einsamkeit und was gegen sie hilft: Solidarität und Liebe.

EsslingenWährend Udo Lindenberg aus dem Off singt „Eldorado, ich komm’ an auf der goldenen Landebahn“, klebt Friedrich Schirmer leuchtfarbene Stolperfallen-Bänder zwischen die sieben Sessel, die für die bevorstehende Talkrunde auf die Bühne des Esslinger Schauspielhauses gehievt wurden. Offenbar will der WLB-Intendant damit so etwas wie eine Landebahn andeuten. Es ist jedenfalls der Start in ein recht inhaltsleeres Vorgeplänkel, mit dem das stAGE-Festival eröffnet wurde – das gesamteuropäische Seniorentheatertreffen, in dessen Rahmen sieben Theatergruppen aus sechs Ländern bis Sonntag ihre Arbeiten zeigen.

Ein bisschen überdreht wird Schirmer später locker-flockig davon plaudern, wie unglücklich er als 13-Jähriger gewesen und wie glücklich er heute sei. Irene Ostertag, Geschäftsführerin des Bundes deutscher Amateurtheater, zieht in ihren Einführungsworten eine Parallele zwischen der Zeit, die im Theater vergeht, und jener des Alterns und fordert dazu auf, beim Festival „das Älterwerden gemeinsam auszuprobieren“, auf der Bühne wie im Publikum.

In der folgenden kurzen Gesprächsrunde lobte Kunst-Staatssekretärin Petra Olschowski die Möglichkeiten des Theaters, Verständnis füreinander und Toleranz zu schaffen sowie internationale Begegnungen zu ermöglichen. Und Regina Görner von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisation BAGSO wies darauf hin, dass Altern nicht nur Einschränkung und Abschied bedeute, sondern auch, sich immer wieder neu zu erfinden. Schließlich würden die älteren Menschen ja das kulturelle Leben tragen, wofür Erwerbstätige kaum Zeit hätten. Naemi Zoe Keuler, Präsidentin des Landesverbandes Amateurtheater Baden-Württemberg, unterstrich die Bedeutung eines solchen Festivals vor dem Hintergrund eines gefährdeten Europas. Es helfe, Sprachbarrieren zu überwinden, und gebe älteren Menschen die Möglichkeit, sich über Kultur auszutauschen – und das alles zugunsten der europäischen Verständigung und des Zusammenhalts.

Dass dann die Runde zum finalen Drei-Worte-Statement zur Zukunft des stAGE-Festivals aufgefordert wurde, gebar erwartungsgemäß nur Plattitüden: Schirmer warf ein euphorisches „Forever young!“ in den Raum. Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger konterte mit „Never too old for drama“, worauf Moderatorin Eva Bittner ihm leicht genervt erwiderte: „Mathe war wohl nicht Ihre Stärke.“

Ironische „Graue Garde“

Dann doch lieber die Künstler und Künstlerinnen endlich zu Wort kommen lassen: Als kurzes Warm-up humpelte die Berliner „Graue Garde“ auf die Bühne und macht sich selbstironisch übers Altern lustig. Das Quartett in einheitlich grünen Mänteln und grauen Perücken knallte mit absichtsvoll griesgrämig verzogenen Minen im Gleichtakt die Stöcke auf den Boden und stöhnte im Chor schmerzvoll vor sich hin – um schließlich den Auftritt mit dem enthusiastischen Ausruf „Jetzt geht’s los, altes Eisen“ zu beenden.

Eine Seniorentheater-Laientruppe? Nee, schon in der ersten Sekunde des Auftritts des dänischen Teaterrødderne hatte man das vergessen. Was das neunköpfige Ensemble in seinem 70 Minuten langen Stück „Stilhed Støjer“ (Stiller Lärm) auf komplett leerer Bühne zeigt, ist auf hochprofessionellem Niveau: eine kurzweilige Reihe tragikomischer, aber auch lustiger und anrührender Szenen, die ganz ohne Sprache auskommen und nur von oft melancholischer Klaviermusik unterlegt werden. Die Gruppe spielt alles pantomimisch, mit präziser Gestik und Mimik, gekleidet in erdfarbene lange, weite Mäntel, unterschiedlichste dunkle Mützen und Hüte, mit schwerem Schuhwerk an den Füßen. Ihre Gesichter sind bemalt in Clownsmanier, alle tragen rote Kugelnasen, aber tölpelhafte Spaßmacher sind die neun deswegen noch lange nicht. Eher tragikomische Figuren, Kreaturen, in ganz allgemeinmenschlicher Hinsicht.

Die Szenen sind aus der Improvisation heraus entstanden, inszeniert hat den Abend Folmer Kristensen. Es sind oft schön absurde Szenen. Dann wird ein dickes Seil über die Bühne gezogen, auf dessen Ende sich unbeweglich ein Mann positioniert hat, der nun langsam mitgeschleppt wird, bis er von der Bühne verschwunden ist. Einer der Running Gags: eine Frau, die immer wieder kraftlos zusammensackt, was dank des langen Mantels so aussieht, als verkürzten sich ihre Beine. Dann springen zwei von der Seite heran, um sie wieder aufzurichten. Manchmal agiert die Gruppe gegen einen einzelnen, der dann mit einer Landkarte bewaffnet auf der Bühne herumirrt und von den anderen – nun verschmolzen zum Knäuel – mit aufgerissenen Glotzaugen beobachtet wird: Choreographien von düsterem Charme.

Kampf mit der Bettdecke

Auch schön: das Gruppen-Luftballonaufblasen – spannend bis zum Zerplatzen. Oder wenn sich eine in einem Pappkarton verkriecht und sich erst tot stellen muss, um von zwei anderen bemerkt zu werden. Oder wenn zwei tanzen und sich gegenseitig pausenlos auf die Zehen treten. Sehr lustig ist auch, wie die drei männlichen Gockel die charmant blinzelnden Damen zum Walzer auffordern – traurig dagegen, dass eine sitzen bleibt. Oder ganz virtuos: Wenn eine mit der Decke kämpft, die sich einfach nicht in den Bettbezug fügen will, und sie dann selbst hineinsteigt in die Hülle und von dort die Decke akkurat hineinzieht – klasse!

Die vielen kleinen Geschichtchen könnten vom Alter und seinen Mühen erzählen. Man könnte sie im Kontext des Festivals so deuten. Aber man kann „Stilhed Støjer“ auch ganz allgemein als ein Stück über Einsam- und Gemeinsamkeit und überlebenswichtige Solidarität und Liebe verstehen. Jedenfalls ein toller Start ins stAGE!-Festival!