Mit Schirm, Charme und Melone: Louis Stiens und das Ensemble in John Crankos „Brouillards“. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Gäbe es nicht den modernen Abend im Schauspielhaus, das Stuttgarter Ballett würde in der ersten Spielzeithälfte ausschließlich Werke seines Gründers tanzen. John Cranko hätte im August seinen 90. Geburtstag gefeiert, das ist Anlass für die Wiederaufnahme dreier Einakter, die im Abend „Cranko Pur“ wichtige Aspekte zum Gesamtbild des Choreografen beitragen, der eben nicht nur der große Dramatiker des europäischen Nachkriegsballetts war. Es ist eine Ehrung voll Lyrik, Esprit und manch nostalgischer Anmutung.

„L’Estro Armonico“ heißt so nach dem zwölfteiligen Zyklus von Antonio Vivaldi, aus dem Cranko drei Konzerte verwendete; Aivo Välja dirigierte das Staatsorchester. Das abstrakte Ballett vereint zwei damals herrschende Stile: Georges Balanchines strenge, russisch grundierte Neoklassik und den etwas gezierteren, feineren britischen Stil von Frederick Ashton - garniert mit einem persönlichen Schuss Cranko-Übermut. Streng hierarchisch stellt das Werk im ersten Konzert zunächst die beiden männlichen Solisten mit einem weiblichen Corps de ballet und zwei Demisolistinnen vor, dann die Primaballerina mit ihren sechs Herren, um schließlich alle im letzten Konzert zusammenzumischen.

Schräge Zutaten

Bei aller konzertanten Klarheit - offensichtlich wollte sich der Dramatiker Cranko auch im reinen Tanz beweisen - fällt die Neigung des Choreografen zu ungewöhnlichen, manchmal fast schrägen Zutaten auf: die Schnecken, in denen sich die Corps-Tänzer händchenhaltend eindrehen, das rustikal auf den Boden geklöppelte Hacke-Spitze-Spiel, das Pferdchentrappeln oder die berühmte „Neckarstraße“, wo die Paare rasant wie Boxautos umeinander herumkurven. All das bleibt bewegungsmäßig im klassizistischen Rahmen, wirkt aber neben der erhabenen Strenge eines Balanchine eher wie ein verliebtes Spiel mit der Leichtigkeit des Balletts, gewissermaßen bukolischer. Cranko mag die kleinen Störfaktoren in der Matrix, setzt manchmal vor lauter Freude noch einen Schnörkel drauf.

Wenn während des schönen, wahrlich nicht leicht zu tanzenden Werkes ein Hauch von Ballett-Antike über die Bühne wabert, dann mag es an den roten Trikothosen der Herren liegen, die irgendwie nach Gymnastik aussehen. Würde „L’Estro Armonico“ in flotter geschnittenen Trikots, mit nach hinten weit geöffneter Bühne wohl besser wirken? Getanzt wird nach anfänglicher Verspannung fein und exakt, vor allem von der auf ihren Spitzen dahinschwebenden Elisa Badenes und ihrem exquisiten Herren-Gefolge. David Moore und Martí Fernández Paixà sind noch sehr auf Korrektheit bedacht und werden die Leichtigkeit ihrer Ballerina bei den nächsten Vorstellungen finden.

Cranko war nicht der Choreograf für die pure Schönheit klassischer Formen. Bei ihm menschelt jede Bewegung, er brachte fast immer Geschichten in den Tanz, Empathie oder Ironie. So belegen die oft gespielten „Brouillards“, benannt nach einem der neun ausgewählten Préludes von Claude Debussy, sein Genie viel trefflicher: in hingetupften Miniaturen von verträumter oder enttäuschter Liebe, in lakonischen Porträts seriöser Exzentriker, aufs Subtilste abgelauscht den zarten Impressionen Debussys (und das mit durchaus größerer Detailliebe als Pianist Alexander Reitenbach). Unter den neckischen, melancholischen, oft ein ganzes Leben zusammenfassenden Skizzen stachen weniger die nachdenklichen Pas de deux hervor, denen es noch an Intensität mangelte, sondern die komischen Szenen - die drei einknickenden Cake-Walk-Marionetten Alessandro Giaquinto, Cédric Rupp und Matteo Miccini oder Louis Stiens als unsanft gebremster Gentleman. Als in der Erinnerung Gefangene gefiel Miriam Kacerova, die genau wie die flirrende Angelina Zuccarini nach langer Zeit auf die Bühne zurückkehrte. Voller Poesie ließ Friedemann Vogel einen Liebestraum aufblühen, den Cranko am Schluss mit trockener Pointe wie eine Seifenblase zerstört.

Reichlich Pointen gibt es auch in „Jeu de cartes“, dem Kartenspiel in drei Runden zur Partitur Igor Strawinskys - etwa wenn die Herzkönigin sich unter gemeinen Zehnern und Siebenern arg etepetete aufführt, wenn die fünf Jungs einer Herzsuite sich wie ein Ringerverein in ihrem Glanze sonnen oder wenn die kleine, prollige Karo-Zwei in die königlichen Bildkarten hineingerät und dort auf entzückende Weise mitzuspielen versucht. Bei aller Heiterkeit zeigt Cranko Gruppendynamik und Standesdünkel, lässt raffiniert ein Soubrettchen durchs erhabene Ballettgefüge der Edlen trollen und gibt den Herz-Jungs kurze, schwierige Angeber-Soli. Jessica Fyfe bezauberte als Karo-Zwei, Ami Morita war die empfindliche Königin, Fabio Adorisio, Timoor Afshar, Alexander McGowan, Martí Fernández Paixà und der neue, fluffig-leicht vom Boden wegschnellende Brasilianer Moacir de Oliveira gaben mit viel Schmackes die fünf Herzbuben. Fast teuflisch, als hätte er gerade Stephen Kings „Es“ im Kino gesehen, wirbelte Adhonay Soares da Silva als weißgesichtiger Joker das Kartenspiel immer wieder durcheinander.

„Cranko Pur“ ist ein fein-nostalgischer Ballettabend und eine schöne Ehrung für den Kompaniegründer. Dennoch bleibt die Sehnsucht, einmal ein paar seiner anderen, vergessenen Werke zu sehen, die kontroversen „Spuren“, „Katalyse“, „Die Begegnung“, den „Nussknacker“ oder das knallbunte „Ebony Concerto“. Wenigstens einige davon hätte man in den vergangenen 20 Jahren rekonstruieren können. Ballettintendant Reid Anderson hat das Cranko-Erbe bestens gepflegt, aber dieser Schmerz bleibt.

Weitere Aufführungen: 6. und 7. Oktober, 13., 15., 18. und 26. November.