Halbe Sachen macht er nicht: Frieder Bernius. Foto: Jens Meisert Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Vor etlichen Jahren dirigierte Frieder Bernius im Saal der Stuttgarter Musikhochschule die h-Moll-Sinfonie von Franz Schubert, die „Unvollendete“ - einen allbekannten Repertoireschlager, dessen wunderbar gesangliche Hauptthemen jeder Musikfreund mitträllern könnte. Kann eine Interpretation da anderes leisten, als die Lust der Wiederholung zu befriedigen, jene Nietzsche’sche Lust, die Ewigkeit des Immergleichen will? Bernius und seine auf Originalinstrumenten musizierende Hofkapelle Stuttgart konnten es - ohne wichtigtuerischen Manierismus, ohne jene Ganz-anders-Attitüde, welche die Konvention durch kalkulierten Konventionsbruch nur bestätigt. Bernius ist ein zu reflektierter Musiker, als dass er sich musizierend an Spielchen beteiligen müsste, die er bereits denkerisch durchschaut hat. Ihm geht es letztlich um das große und eben nicht wiederholbare, sondern stets erneut zu wirkende Wunder der abendländischen Musik: die Verwandlung des fixierten Notentexts ins performative Ereignis, in die lebendige Organik des Klangs. In jener Schubert-Sinfonie bescheidete sich die Ewigkeitslust nicht beim Wiederhören, sondern schlug um ins Neu-Hören, in soghafte Momente, welche das Vergehen und das Verweilen aufzuheben schienen. Namentlich wenn sich im zweiten Satz, dem Andante con moto, die Holzbläser die Melodieglieder weiterreichen, war das bei Bernius kein bloßer Farb-, sondern ein Dimensionswechsel, als wandere Schuberts Melos jenseits aller Zeit durch eine Sphäre lichter Transzendenz, widerscheinend in klanglicher Transparenz.

Bekannt geworden und weltweit renommiert ist Bernius nicht als Orchester-, sondern als Chordirigent mit seinem Kammerchor Stuttgart. Das Schubert-Exempel lehrt daher zweierlei: die sensibel aus der Struktur und der Eigendynamik der notierten Musik entwickelte Interpretationskunst dieses Dirigenten - und die Fragwürdigkeit der reflexhaften Einschränkung, er sei ja „nur“ ein exzellenter Chordirigent. Bernius ist jenseits von Schablonen und Schubladen Musiker, mit aller Konsequenz und Kompromisslosigkeit - ein „Fachidiot im besten Sinne“, wie er selbst sagt.

Als solcher weiß er, dass Wunder, auch musikalische, launisch sind. Wenn man nicht aufpasst, werden sie zu faulem Zauber. Deshalb hat Bernius nichts an sich vom taktstockfuchtelnden Mystifax, zur marktschreierischen „Höher-Schneller-Lauter“-Devise auch des Klassik-Betriebs hält er souveräne Distanz - was nicht heißt, dass seine Interpretationen nicht rasant oder auch mal laut sein können, wenn es der musikalischen Logik gebührt. Versteht sich, dass Bernius nicht nur ein exakt analysierender Partiturenleser ist, sondern die Notentexte kundig nach ihrer klingenden Bedeutung befragt. Das brachte den Pfarrersohn aus Ludwigshafen am Rhein, der in Stuttgart Musik studierte und hier noch während des Studiums seinen Kammerchor gründete, zum Originalklang, zur Suche nach einer möglichst authentischen Aufführungspraxis. Als er Mitte der 70er-Jahre als erster in Stuttgart einen umfassenden Monteverdi-Aufführungszyklus startete, begleitete noch viel kollegiale Skepsis seinen Aufbruch in die historischen Klangwelten, wie er erzählt. Doch irre machen ließ und lässt er sich nie, auch heute nicht, wo manche Originalklang-Pioniere zu modernen Instrumenten zurückkehren, andere in modischem Crossover ihre Zukunft wähnen. Für Bernius ist der Rückfall hinter den jeweils fortgeschrittensten Stand aufführungspraktischer Kenntnisse unsinnig - wegen der Sinnlichkeit und nicht wegen dogmatischer Skrupel: Musik klingt nie besser als im originalen Ton.

Mit seinen Ensembles Kammerchor, Barockorchester und Hofkapelle Stuttgart, aber auch als Gastdirigent hat Bernius rund 100 Aufnahmen eingespielt - viele mit Referenzstatus, etwa seine Schütz- und Mendelssohn-Zyklen oder seine Aufnahmen von Zelenka-Messen. Gerade Zelenka, der in Dresden wirkende böhmische Bach-Zeitgenosse, zählt nicht zuletzt dank Bernius’ Einsatz heute wieder zu den Großmeistern des Barock, nachdem er Jahrhunderte lang nur als Fußnote der Musikgeschichte galt. Solche Ausgrabungen reizen Bernius „mehr als der 500. ,Fidelio‘“, wie er sagt - ohne freilich den Großwerken von Bach bis in die Romantik die kalte Schulter zu zeigen. Mit etlichen Aufnahmen und mit Aufführungen bei seinen Stuttgarter Festivals hat er sich in den vergangenen Jahren zum derzeit wohl führenden Experten für die Musik des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt, einer Epoche, die im Schatten weniger Größen - Schubert, Beethoven, vielleicht noch Weber - zur Terra incognita herabsank: ideales Terrain für das „archäologische“ Gespür des Frieder Bernius.

Heute wird er 70 Jahre alt. Eine China-Tournee hat er auf dem Plan, das 50-jährige Jubiläum seines Kammerchors, eine Aufnahme von Beethovens „Missa solemnis“. Vielstimmige Werke in solistischer A-cappella-Besetzung will er sich vornehmen, auch aus jüngerer Zeit, ist er doch, im Unterschied zu anderen „Barockern“, seit jeher auch mit Neuer Musik aktiv. Und Rossini würde ihn reizen, besonders dessen Choroper „Moses in Ägypten“. Aber nur, wenn die Besetzung und die Mittel stimmen. Von seinen Musikern verehrt und manchmal auch gefürchtet als Perfektionist, macht Frieder Bernius keine halben Sachen. Ganz in diesem Sinne sagt er: „Ich hoffe, dass mir noch ein paar Jahre gegeben sind - und dass ich keine anderen Leute brauche, die mir sagen, wann es besser ist aufzuhören, sondern es selbst merke.“