Jordi Savall streicht seine Diskantgambe. Foto: Claire Xavier Quelle: Unbekannt

Von Dietholf Zerweck

Ludwigsburg - „Alles fließt“, sagte der antike Philosoph Heraklit zur Relativität von Zeit und Erkenntnis und umschrieb das mit einem berühmten, paradoxen Bild: Man steigt immer in denselben Fluss und doch ist es nie derselbe. Lauscht man Jordi Savall und seinen Musikern in ihrem Programm „Der Klang Armeniens“, so könnte einem der Spruch Heraklits in den Sinn kommen. Ein Bitt- oder ein Klagegesang, ein Liebes- oder ein Kampflied, eine Improvisation oder ein Tanz oder Kampfgesang: Alles fließt ohne Unterbrechung ineinander, und alle diese archaisch anmutenden Melodien sind von einer unendlichen, zugleich tröstenden und in sich verlorenen Traurigkeit.

Jordi Savall, der große katalanische Gambist und Erforscher alter Musiktraditionen, hat sein Armenien-Projekt vor fünf Jahren seiner verstorbenen Frau und musikalischen Weggefährtin, der Sängerin Montserrat Figueras, gewidmet. Nun stellte er es auch bei den Ludwigsburger Festspielen vor.

Für das authentische Flair bürgen die mitwirkenden armenischen Musiker. Georgi Minassyan und Haïg Sarikouyoumdjian sind zwei Duduk-Virtuosen, die auf dieser Aprikosenrohrflöte mit breitem Doppelrohrblatt ungeheuer weiche, volumenreiche Töne erzeugen und fantasievoll improvisieren: der eine mit lang anhaltendem Ton in Zirkelatmung, der andere mit reich verzierten Melismen, die aus der Tiefe der 3000-jährigen Geschichte dieses Landes zwischen Anatolien und dem Kaukasus emporzusteigen scheinen. Hör- und spürbar ist aber auch die abgrundtiefe Melancholie in den meisten Tänzen und den Texten der Lieder.

Wie eine träge Karawane setzt sich das insgesamt achtköpfige Ensemble in der „Ode an die Freiheit“ schwermütig in Bewegung, nach einem fingerfertigen Prolog Meri Vardanyans auf ihrer Kastenzither; zwischen Savalls Diskantgambe und Gaguik Mouradians mit dem Bogen gestrichener Langhalsspießgeige (Kamantsche) schwebt die Melodie hin und her. Und dann stimmt Sänger Aram Movsisyan ein uraltes Liebeslied an. Die Natur wird im Klagelied „Hov Arek“ zum Spiegel des quälenden Schmerzes, und ganz zauberhaft steigert sich das Lied des armenischen Sängers und Dichters Sayat Nova aus dem 18. Jahrhundert zur bilderreichen, dem Hohelied Salomos ähnlichen Liebesbeschwörung.

In einigen Liedern der Sammlung, welche der armenische Geistliche Komitas Vardapet zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlegte, dringt indes eine ganz ungewohnte Fröhlichkeit, verbunden mit diatonischer Harmonik, ans Ohr. „Alagyeaz“ etwa handelt von einem verliebten Reiter, der bei seiner Liebsten vom Wetter überrascht wurde: „Der Regen hat ihn durchnässt, die Sonne hat ihn getrocknet, nun ist er aufgeblüht wie eine Rose.“

1915 wurde der Musikethnologe Vardapet zusammen mit einigen Hundert Intellektuellen in Konstantinopel verhaftet und nach Çankin deportiert. Er kam zwar wieder frei, doch fast alle der Mitgefangenen fielen dem Genozid an den Armeniern zum Opfer. Wie ein utopisches Fanal ertönte dagegen am Ende des intensiven Ludwigsburger Konzerts Tigran Tschukhadjans Kampfhymne vom Ende des 19. Jahrhunderts, mit Inbrunst vorgetragen vom gesamten Ensemble. Der Beifall des Publikums steigerte sich zu stehenden Ovationen.