Die Schauspieler wissen, was der Wahnsinn geschlagen hat: Martin Schwab als Lear (li.) und Elmar Roloff als Gloster. Foto: Th. Aurin - Th. Aurin

Claus Peymann ist wieder da und inszeniert Shakespeares „König Lear“ am Stuttgarter Staatsschauspiel – altmeisterlich und harmlos.

StuttgartGanz so wie einst im Deutschen Herbst, der auch ein Stuttgarter Theaterfrühling war, war es naturgemäß nicht. Das mit dem Herbst meint eben nicht mehr die bewegte und erregte Zeit des RAF-Terrors und eines rebellischen Theaterdirektors, der (in Wirklichkeit) einen Spendenaufruf für den Zahnersatz Gudrun Ensslins ans schwarze Brett hängte und (in seiner Inszenierung von Camus’ „Die Gerechten“) die Straßenbahn nach Stuttgart-Stammheim fahren ließ, wo Ensslin und ihre RAF-Konsorten damals einsaßen. Begleitet von lautstarkem politischem Tamtam war es – auch künstlerisch – die Glanzzeit des Claus Peymann. Aus seiner kurzen, aber bis heute legendären Ära am Stuttgarter Staatsschauspiel, das er ab 1974 leitete und 1979 auf Druck der CDU-Landesregierung verlassen musste, ging er hervor als Theaterheiliger, halb Märtyrer, halb Revolutionär. Das Stuttgarter Publikum errichtete ihm etliche Altäre ehrenden Angedenkens.

Vorsätzliche Altersstil-Attitüde

Jetzt ist er – als Regisseur und „König ohne Land“ nach seinem unter gewaltigen Donnerwettern vollzogenen Abschied vom Berliner Ensemble – nach Stuttgart zurückgekehrt, sinnigerweise für eine Inszenierung von Shakespeares „König Lear“. Das mit dem Herbst meint nun aber ganz unmittelbar die Beteiligten selbst: die Zuschauer, von denen etliche dem Anschein nach schon vor 40 Jahren im Stuttgarter Schauspielhaus saßen, ebenso die Akteure – den gesegnete 80 Jahre zählenden Regisseur, den gleichalten Hauptdarsteller, den zwei Jahre älteren Bühnenbildner. Alles überragende Größen der Theatererinnerung, ein Seniorenspielclub alter Meister, der nur von den Erfordernissen der „Lear“-Besetzung aufgebrochen wird. Streicht man das so heraus, klingt es freilich nach bescheuert jugendkultigem Alte-Säcke-Bashing und täte künstlerisch nichts zur Sache – wenn es künstlerisch nichts zur Sache täte. Aber das Gegenteil ist der Fall. In vorsätzlicher Altersstil-Attitüde wird hier die Theatervergangenheit ausgestellt, die Konvention von vorgestern zum Konventionsbruch von heute erklärt. „Einfach nur ,Lear’“ ist programmatisch im Programmheft zu lesen, auf dessen vorletzter Seite nur das Wörtchen „Nichts“ steht. Peymann hält sich an beides: Er huldigt der Texttreue-Religion und ihrem obersten Dogma, man müsse „einfach“ nur das Stück spielen, es durch ein „Nichts“ an Regieeinfällen unbeschadet lassen – und für alles weitere sorgen der Text und das strikt textbezogene Schauspiel. So hegt der zum ästhetisch Konservativen gewandelte Revolutionär den alten Bildungsspießbürgertraum, mit einem „intakten“ Klassiker bündig die Welt zu erklären, die selbstverständlich bereits bei Shakespeare alles andere als intakt ist. Sonst gäbe es keine Tragödie. Aber genau dieser Reim, den sich die bannende Form auf krude und diffuse Inhalt zu machen hat, mündet als schlichtes Theaterrezept in einen ewig öden Klassizismus. Das Peymann’sche „Lear“-Resultat weilt denn auch vier überraschungslose Stunden lange, stellt keine szenisch sichtbaren Fragen an das Stück, erbringt nur einen unfreiwilligen Beweis: Aus den vermeintlichen oder tatsächlichen Sackgassen, in welche all die Theater-Moden unter Namen wie Dekonstruktion, Postdramatik oder Performance führten, kommt man auch nicht heraus, wenn man nur den Rückwärtsgang einlegt.

In Peymanns Lesart muss man sehr das Symbolische bemühen, um Bezüglichkeiten herauszuschälen aus der Geschichte vom Briten-König, der sein Reich an seine beiden schlangenhaften Töchter verschenkt und die dritte, aufrichtige verstößt, damit Wahnsinn, Mord und Krieg heraufbeschwört. Und doch Frieden wollte. Den Fluch der guten Tat symbolisiert bei Peymann ein britannischer Kreidekreis, den Lear auf den Boden zeichnet und mit drei Strichen teilt: Die Reichsteilung sieht aus wie ein Peace-Zeichen, bewirkt das Gegenteil, die Form wird aufgegriffen von einer dreiflügeligen Neon-Propeller-Leuchte, die vom Schnürboden herabhängt in den Szenen im Schloss des braven Grafen Gloster. Dort, wo der „Bastard“ Edmund, Glosters unehelicher Sohn, seine verheerenden Ränke schmiedet. Das Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann, ein karges Gehäuse mit Glasschwenktüren in den drei Wänden, siedelt irgendwo zwischen Präfaschismus und Postdemokratie jenes Geschehen an, das Peymann mutmaßlich (und recht unscharf) als Warnung in politischen Krisenzeiten verstanden wissen will: Die gute Absicht gesellschaftlicher Befriedung scheitert, wenn sie dem durchtriebenen Bösen auf den Leim geht. Und das tut Lear, der von seinen Töchtern umschmeichelt sein will, speichelleckerische Rhetorik einfordert, Schein und Sein, Worte und Wahrheit nicht zu unterscheiden weiß.

Große Schauspieler und ein Kellner

Der große Schauspieler Martin Schwab – Protagonist schon in Peymanns Stuttgarter Zeit – zeigt das mit überragender Kenntlichkeit von Altersnarzissmus und Altersstarrsinn, jovialer Gutgläubigkeit und blinder Torheit. Er lässt Momente kluger Skepsis wie verhärteten Zornnickeltums aufblitzen, bindet die Flucht in Wahnsinn und Demenz an hellichte Verzweiflungseinsicht. Überhaupt hat die Inszenierung ihre Meriten, wenn sich Peymann als Kellner gediegenen Schauspielertheaters bescheidet: Grandios gibt Elmar Roloff den zunächst apparatschikhaft loyalen Gloster, die Fallhöhe des Humanen mündet aber in geradezu Beckett’sche Nichtigkeitsschwärze, wenn er, brutal seines Augenlichts beraubt, dem verwirrten alten König begegnet. Durchweg exzellent auch das übrige Ensemble, wobei die Rollen pauschal mit dem Strich gebürstet werden: Die Bösen sind erkennbar böse – Jannik Mühlenwegs Edmund ein krummer, hämischer Freak, Andreas Leupolds Cornwall ein Leder-Brutalo mit Stahlkanten-Haarkamm, Horst Kotterbas Oswald ein fieser Butler, die Lear-Töchter Goneril und Regan (Manja Kuhl und Caroline Junghanns) üble Fregatten unter 20er-Jahre-Federhütchen (Präfaschismus!). Und die Guten sind aufrichtig gut: Lea Ruckpauls wie aus dem Hanni- und-Nanni-Pensionat geborgtes liebes Lear-Töchterlein Cordelia (in einer Doppelrolle spielt sie auch den akrobatischen Weißclown-Narren mit seinen von Peter Handke anmutig nachgedichteten Liedern), Peter René Lüdickes aufopfernder Kent, Michael Stillers widerständiger Goneril-Gatte Albany, Lukas T. Sperber als Leidensmann Edgar, Glosters verleumdeter Sohn.

Peymann inszeniert all diese Darstellerkünste zum Zweck irritationsfreier Stück-Verrichtung, handwerklich solide im langsamen, gegen Ende auch mal beschleunigten Takt, bedacht auf Pathosvermeidung und lockeres, bisweilen fast komödiantisches Spiel im bitter Tragischen. Dass Lear mal einen „Terrorist, getarnt als harmloser Flüchtling“ im Publikum ausmachen muss, wirkt da wie die aufgesetzte, quasi rot markierte Textausnahme, welche die Harmlosigkeitsregel der Inszenierung selbst nur bestätigt. Am Ende gab’s freundlich müden Applaus und ein herzhaftes Buh für Peymann. Ein Coup ist seine Einladung als Stuttgart-Wiedergänger nur in einer Hinsicht: Fast alle Vorstellungen sind ausverkauft.

Die nächsten Vorstellungen: 27. Februar, 2., 3., 8., 16. und 31. März, 15., 16. und 28. April. Alle Termine außer 28. April sind ausverkauft, Restkarten gibt es eventuell an der Abendkasse.