„Die Kunst bleibt“: Kirill Serebrennikov gibt sich kämpferisch. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Friedemann Kohler und Martin Mezger

Moskau/Stuttgart - Für den russischen Regisseur Kirill Serebrennikov und die Tänzer am Moskauer Bolschoi-Theater war es ein Schock. An einem Abend meistern sie eine begeisternde Generalprobe des Balletts „Nurejew“ über den 1993 gestorbenen Startänzer Rudolf Nurejew, am nächsten Tag setzt die Theaterleitung das Stück ab - kurz vor der Weltaufführung, die gestern hätte stattfinden sollen.

„Mir fehlen die Worte“, schrieb der erschütterte Tänzer Wladislaw Lantratow auf Instagram. „Das Bolschoi beschließt die Saison nicht mit der meisterwarteten Premiere, sondern mit einem beispiellosen Skandal“, kommentiert die kritische Moskauer Zeitung „Nowaja Gaseta“.

Tabuthema Homosexualität

Das Stück sei nicht aufführungsreif gewesen, behauptete Generaldirektor Wladimir Urin. Doch die Gründe dürften woanders liegen: Bei „Nurejew“ kam alles zusammen, was derzeit in der orthodox-konservativen und nationalistischen russischen Kulturpolitik unter Präsident Wladimir Putin Anstoß erregen kann. Etwa die Emigration der Ballettlegende Nurejew, vor allem aber seine Homosexualität, die Thema auf der Bühne werden sollten. Und da ist Serebrennikov, Liebling des Moskauer Publikums und der internationalen Theaterwelt, bekennender Schwuler und standhafter Kritiker der Zustände in Russland. Vorsorglich hatte das Bolschoi die Aufführung mit einer Altersbegrenzung ab 18 Jahren versehen. Es ist in Russland verboten, gegenüber Kindern und Jugendlichen Homosexualität auch nur zu erwähnen, weil dies angeblich Propaganda für sie macht. Nebenbei gestand Urin ein, dass hier die Gründe für die Absetzung zu suchen seien: „Mir war sehr bewusst, dass dieses Thema vorkommen würde, das bei vielen Leuten Unverständnis hervorruft.“

Mit der Absage verpassen die Behörden Serebrennikov den zweiten Schlag binnen weniger Wochen. Bereits im Mai war er ins Fadenkreuz der Staatsmacht geraten. Ermittler durchsuchten seine Hausbühne, das Moskauer Gogol-Theater. Er wurde mehrere Stunden lang verhört, weil eine von ihm gegründete Firma staatliche Gelder unterschlagen haben soll. Eine Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ sei nie auf die Bühne gekommen, behaupten fälschlicherweise die Fahnder. Der prominente Regisseur ist bislang offiziell nur Zeuge, aber gegen drei Mitarbeiter wurde Untersuchungshaft oder Hausarrest verhängt.

Kenner der russischen Theaterszene verweisen darauf, dass der staatliche Bürokratismus für den Spielbetrieb der Bühnen zahlreiche Fallstricke bereit halte. Die russische Autorin Marina Davydova schreibt in der Zeitschrift „Theater heute“ zum Fall Serebrennikov: „Würde ein Direktor streng nach dem Gesetz handeln, kämen weder Theaterkostüme noch Toilettenpapier pünktlich vor Ort. Damit ein Theater funktioniert und Vorstellungen produziert werden können, hat jeder Direktor, ohne Ausnahme, Gesetze zu brechen. (...) Das macht die Theatersphäre sehr praktisch für Enthüllungen: Korruption lässt sich von den Behörden immer, und zu gewünschter Zeit, einem (der Macht nicht genehmen) Menschen vorwerfen.“

Fulminante „Salome“ in Stuttgart

Im Ausland ist Serebrennikov vor allem seit seiner fulminanten „Salome“-Inszenierung vom Herbst 2015 an der Stuttgarter Oper bekannt. Zum Auftakt der nächsten Saison soll er in Stuttgart Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ inszenieren. Die Premiere ist für den 22. Oktober geplant.

Sein Leben verlaufe derzeit zwischen „einem Theaterstück, das es nicht geben wird“ und „einem Theaterstück, das es nicht gegeben hat“, sagte Serebrennikov nach der „Nurejew“-Absage. Seine Schauspieler lachten bitter - sie hatten soeben zum wiederholten Mal jenen angeblich nicht existierenden „Sommernachtstraum“ gespielt.

Das russische Kulturministerium teilte mit, Minister Wladimir Medinski und Urin hätten lange über Serebrennikovs „Nurejew“-Projekt gesprochen. „Aber Zensur oder Verbote gehören nicht zum Stil unseres Ministeriums“, sagte eine Sprecherin. Urin will das Stück laut eigener Aussage im Mai 2018 herausbringen. Und Serebrennikov selbst gibt sich kämpferisch: „Die Kunst bleibt. Ein Theaterstück, das es nicht gab oder das es nicht geben wird, kann existenter sein als alles andere.“