Standhafter Titelheld: Antonio Lallo als Martin Luther. Foto: P. Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Er haderte mit sich und seinem Gott, war aber auch zu derben Sprüchen und Späßen aufgelegt.

Von Thomas Krazeisen

Esslingen -Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatten auch die Theatergötter ihre Hände mit in jenem dramatischen Schauspiel, das sich am späten Donnerstag auf dem Kessler-Platz hinter der Esslinger Stadtkirche St. Dionys zutrug. Die Wetterprognose für den Abend der WLB-Freilichtpremiere verhieß nichts Gutes, der bange Blick nach oben nichts Besseres. Es schien nur eine Frage der Zeit, wann dem kleinen Theaterdonner der ersten Szene, in der der junge Jurastudent Luther in einem Gewittersturm sein Damaskus-Erlebnis hat, das große Unwetter von oben folgen würde. Und der wolkenverhangene Himmel über Esslingen lieferte - ein kleines Wunder. Das einzige echte Donnergrollen dieses rund zweieinhalbstündigen Theaterabends hätte Regisseur Marcel Keller nicht besser platzieren können in seiner „Luther!“-Inszenierung. „Ich werde nicht widerrufen!“: Kaum hatte der standhafte Titelheld seinen folgenreichen Beschluss himmelwärts geschleudert, da grummelte Petrus prompt.

Auch der Ort der WLB-Luther-Hommage anlässlich des 500. Reformationsjubiläums hätte im Schatten der evangelischen Stadtkirche nicht besser gewählt werden können. Bei der diesjährigen Freilichtpremiere auf dem Kessler-Platz blickt das Publikum auf der zweigeteilten Tribüne nicht Richtung Stadtarchiv, sondern auf die Südseite der Stadtkirche - also auf die authentische Großkulisse im Herzen der einst der Reformation zugeführten Reichsstadt. Das Esslinger Gotteshaus, dessen Steinfassade bei dieser Produktion zugleich als Projektionsfläche für imposante Licht- und Schattenspiele fungiert, spielt einem unbemerkt von innen nicht minder beeindruckende Bezüge zum bunten Treiben draußen zu: Die Spielfläche, ein Holzpodest mit Steg in der Pfeilernische vor dem Südturm von St. Dionys, ist nur wenige Meter von der im Chor der Kirche befindlichen Grabplatte des in Esslingen verstorbenen Theologen und Juristen Johannes von der Ecken entfernt - also just jenes Kirchenmannes und Offizials in kurtrierischen Diensten, der Luther in den weltgeschichtlich bedeutsamen Stunden auf dem berühm ten Wormser Reichstag von 1521 vor Kaiser und Ständen verhört hatte.

Die Textfassung dieser Uraufführung stammt von Jörg Ehni, der bereits im vergangenen Sommer mit seiner württembergischen „Hamlet“-Adaption für die WLB-Freilicht-Produktion verantwortlich zeichnete. Geschwäbelt wird diesmal zwar nicht - und auch nicht gesächselt, doch auch so hat Ehni mit seinem „Luther!“ ein Bühnenstück voll Saft und Kraft geschaffen, welches die vielen Facetten dieser schillernden Figur der deutschen Geschichte mit all ihren Ecken, Kanten und Widersprüchen hellsichtig beleuchtet. Und welches hinter dem Mythos des strahlenden protestantischen Freiheitshelden einen Menschen aus Fleisch und Blut entdeckt, der mit sich, seinem Gewissen, seinem Gott und seinem schlimmsten Widersacher, dem Teufel, ringt. Die Rendezvous mit Luzifer, den Martin Theuer prächtig als mephistophelisch durchtriebenen Verführer und seelischen Peiniger verkörpert, gehören zu den stärksten Szenen dieser Inszenierung. Der Diabolus sucht Luther immer wieder heim: in der Wittenberger Studierstube ebenso wie in seiner Wormser Unterkunft oder im Bibelübersetzungszimmer auf der Wartburg. Und er konfrontiert den Reformator, der in späteren Jahrhunderten vom Glaubens- zum deutschen Nationalhelden verklärt wurde, am Ende mit der blutigen Wirkungsgeschichte seines Lebenswerks: In Felix Muntwilers vielfach variiertem Soundtrack „Ein feste Burg ist unser Gott“ hallen auch die Dissonanzen eines im Ersten Weltkrieg zur Schlachtenfanfare umfunktionierten Chorals nach.

Antonio Lallo brilliert als vielschichtiger Titelheld nicht nur in den Pas de deux mit dem Leibhaftigen - der Teufel war für Luther einst ein ebenso realer Akteur wie Kaiser und Papst in jenem kosmischen Endspiel, das auf einer Leinwand mit einer Szene aus Hieronymus Boschs Weltuntergangskino beschworen wird. Lallo gibt ebenso überzeugend den charismatischen Akademiker im Kreise seiner Weggefährten Philipp Melanchthon (Reinhold Ohngemach), Johannes Bugenhagen (Frank Ehrhardt), Justus Jonas (Felix Jeiter) und Thomas Müntzer (Oliver Moumouris); den Haus- und Familienvater, der von der patenten Ex-Nonne Katharina von Bora (Stephanie Biesolt) erst auf den ehelichen Geschmack gebracht werden muss; den geselligen Genießer und Freund derber Späße und Sprüche, aber auch schlimmer antijudaistischer Ausfälle. Und nicht zuletzt besticht Lallo im Einsamkeitskammerspiel des von Selbstzweifeln geplagten, innerlich zerrissenen und am Ende an seinem Lebenswerk zweifelnden, ja fast verzweifelnden protestantischen Übervaters. Da liegt er nun, am Boden zerstört, die Hände wie zu einem Kreuz seitwärts gestreckt, und kann nicht anders als dem Papst (Florian Stamm) zu selbigem zu kriechen und zu widerrufen: nur ein Fiebertraum kurz vor dem endgültigen Ende. Nur eines einer ganzen Reihe von starken Bildern, die diese Inszenierung bereithält. Der blutige Tross der Gebeugten und Geschlagenen, bei dem der abgetrennte Kopf des Reformators und Revolutionärs Müntzer mitgeführt wird, erinnert an Luthers unheilvolle Rolle im deutschen Bauernkrieg, als er sich vehement gegen eine sozialreformerische Auslegung seiner Freiheitsschrift wehrte und schließlich für die Fürsten Partei ergriff. Der Pestzug mit einem Karren voller Leichen ist als bizarrer Mummenschanz choreografiert, bei dem es dem Ablass-Prediger Tetzel an den Kragen geht. Auf diesem von Katrin Busching bunt kostümierten Jahrmarkt irdischer Eitelkeiten und übernatürlicher Kräfte und böser Potenzen nimmt sich der Endzeittheologe Luther mit seinem konservativen Weltbild in vielem noch ziemlich mittelalterlich aus. Im Studio Cranachs (Ulf Deutscher) ein anderes Bild: Luther, der Mann des allein selig machenden Gotteswortes, lästert über Reliquienkult und Heiligenbildchen, während er sich vom Hofmaler ins rechte Licht rücken lässt: die Geburt des modernen Medienstars. Da ist uns der ferne Luther ohne regietheatralische Bilderstürmereien plötzlich ganz nah. So oder so: ein sehenswerter „Luther!“ - auch ohne himmlisches Donnergrollen.

Weitere Vorstellungen bis 29. Juli.

www.wlb-esslingen.de