Der Tod droht den Haudegen im Schiffsbauch: Wolfgang Michalek als Ahab (links vorne) und Christian Schneeweiß als Starbuck. Foto: Julian Marbach Quelle: Unbekannt

Von Elisabeth Maier

Stuttgart -Eine Windmaschine bläst Plastikschnee in den Zuschauerraum. Wild schaukelt der Rumpf des Walfängers an Seilen. Verzweifelt kämpfen Seeleute gegen das Unwetter. In dieser grausamen Welt ringt Kapitän Ahab mit den Naturgewalten. Jan-Christoph Gockel hat den Abenteuerroman „Moby Dick“, den der Amerikaner Herman Melville 1851 schrieb, im Stuttgarter Kammertheater für das Staatsschauspiel in Szene gesetzt. Packend und bilderstark erzählt er die Geschichte von dem rachelüsternen Schiffskommandanten, dem ein riesiger weißer Wal ein Bein abbiss. Die erbitterte Vergeltung an dem bösartigen Meereskoloss, genannt Moby Dick, gerät zur Tragödie.

Klug ist Gockels Zugriff auf den fesselnden Stoff. In ihrer dynamischen Textfassung tauchen der Regisseur, Dramaturgin Katrin Spira und das Ensemble tief ein in die kraftvolle Sprache Melvilles, der viel mehr als eine tragische Geschichte erzählt. Die Fassung strafft die Handlung, wird dem epischen Text aber mit Hörspiel-Einschüben sehr gerecht. Melville greift in dem zur Zeit seines Erscheinens heftig umstrittenen Buch drängende Diskurse auf. Es geht um Darwinismus, das Recht des Stärkeren. Zugleich reflektiert der Autor religiöse Themen, untersucht Mechanismen des Kolonialismus. Die Parabel vom übermächtigen Wal übertrug Gudrun Ensslin in den 70er-Jahren mit den Terroristen der RAF auf den Staat, den sie bekämpften. „Wer die RAF verstehen will, muss ,Moby Dick’ lesen“, sagte der Journalist und Autor Stefan Aust.

Diese politische Ebene des Textes lässt Gockel mitschwingen, aber alles andere als plakativ. Mit seinem spielerischen Zugriff verführt er die Zuschauer, die Tiefe von Melvilles Jahrhundertwerk zu ergründen. Abenteuerlust und Pioniergeist kitzelt er mit den Schauspielern heraus. Ein Fremder ist der junge Ismael, als er auf das Schiff kommt. Die raue See kennt er nur von Vergnügungsschiffen. Kapitän Ahab begeistert ihn für den Walfang. „Moby Dick“ ist aus der Perspektive des Neulings erzählt, den Michael Pietsch sensibel und neugierig zeigt. Der Schiffskommandant ist für Wolfgang Michalek ein perfekter Part. Brillant zerlegt der massige Schauspieler das Selbstvertrauen der Figur, die von der Mannschaft zunehmend in Frage gestellt wird. Ahabs größenwahnsinnige Träume vom Sieg des Menschen über die allgewaltige Natur spielt er ebenso stark aus wie die Verzweiflung des einsamen Mannes, den seine Rachsucht das Leben kostet.

Christian Schneeweiß als sein Maat Starbuck entlarvt Ahabs Fixierung auf den Wal als Gotteslästerung. Sein reflektiertes Spiel macht ihn zum ebenbürtigen Gegenspieler. Leidenschaftlich arbeitet er die theologischen Fragen im Text heraus. Die blutigen Mechanismen des Kolonialismus bringt Komi Mizrajim Togbonou als Queequeg zur Sprache. Schnee fällt auf die langen Rastalocken des Schwarzen, als er von den brutalen Weißen erzählt. Die Eroberer ließen sich wie Götter feiern und ermordeten dann die Menschen, deren Land sie stahlen. Das Töten ist für die Walfänger Stubb und Flask nichts weiter als ein Handwerk. Robert Kuchenbuch und Felix Mühlen gelingen klug differenzierte Studien der abgestumpften Männer, die selbst zu Opfern werden.

Salzige Spuren hat das Meerwasser auf dem Schiffsrumpf hinterlassen, den Julia Kurzweg ins Zentrum ihrer Bühne stellt. Unruhig schaukelt das riesige Schiff hin und her, wenn sich die Akteure darauf bewegen. In diesem starken Spielraum schafft die Künstlerin eine Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Dazu trägt auch Matthias Grübels musikalischer Höllenritt zwischen Rock und Shanty-Liedern bei. Großartig wirken Michael Pietschs Puppen, die er aus Walknochen-Imitat zimmert. Die Gesichter sind denen der Spieler nachempfunden. Ihre Körper sind Skelette. So bringt der Mainzer Schauspieler und Puppenbauer eine neue Perspektive ins Spiel: Seine feingliedrigen Figuren offenbaren die Verletzlichkeit der Haudegen auf hoher See. Mit diesen morbiden Ebenbildern spielt Gockel nicht nur auf das schmutzige Geschäft des Tötens an. Er zeigt mit seinen Puppen auch, wie zerbrechlich die Menschen sind. Das berührt zutiefst.

Als der sterbende Ahab, weiß getüncht wie ein Wal, am Ende allein auf der Bühne sitzt, schwebt eine Möwe an Fäden auf seine Schulter. Zärtlich stupst der spitze Schnabel seine kalte Wange. Erst im letzten Augenblick seines Lebens ist Ahab nicht mehr allein.

Die nächsten Vorstellungen: heute, 24., 26., 29. und 31. Januar sowie 1. und 2. Februar.