Herzstück einer Freimaurerloge: „Tempel“ mit dem Stuhlmeister-Sitz, einem „Altar“ und einem Arbeitsteppich. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Die „dunkle Kammer“ im Foyer des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs schlägt mit aller Drastik den thematischen Bogen zur aktuellen Ausstellung „Gelebte Utopie. Auf den Spuren der Freimaurer in Württemberg“. Blickfang der kleinen Rauminstallation ist die Darstellung eines vergoldeten Schädels. Der Totenschädel spielt als Vanitas-Symbol wie als mahnendes Zeichen nach wie vor auch im Ritual der Freimaurer eine Rolle. Er erinnert den Bruder daran, seine Lebensspanne weise zu nutzen, um Bleibendes zu schaffen - in der Bildsprache der Freimaurer: um als Träger der Verheißung einer besseren Welt mitzubauen an jenem unvergänglichen Tempel gelebter Menschlichkeit, dessen tragende Säulen Toleranz, Freiheit, Brüderlichkeit, Humanität und Gleichheit unverkennbar in der Welt des Humanismus und der Aufklärung verankert sind.

Zugleich lässt sich das dunkle „Kammerspiel“ im Prolog dieser sehenswerten Schau auch als Hinweis auf ein Wahrnehmungsproblem deuten. Bis heute werden die verschwiegenen Freimaurerlogen mit ihren geheimnisumwobenen Zeremonien und Initiationsriten in der öffentlichen Wahrnehmung gerne in einem Atemzug mit Scientologen, modernen Templern, Rosenkreuzern und Mysterienkultlern genannt und in die esoterische Schmuddelecke abgeschoben. Auch der Umstand, dass sich von Anfang an hoch angesehene Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur unter den Logenbrüdern fanden, hat wenig zur Aufweichung hartnäckig tradierter Vorurteile beitragen können. Das gilt auch in baden-württembergischem Betracht. Wer weiß heute schon noch, dass der erste Ministerpräsident des Südweststaats, Reinhold Maier, ebenso wie der Reutlinger Nationalökonom Friedrich List Freimaurer waren?

„Königliche Kunst“

So vermag die von Albrecht Ernst und Regina Grünert hellsichtig kuratierte Schau im Spiegel der württembergischen Geschichte Licht ins noch immer diffuse Bild der Freimaurerei zu bringen - und zugleich ein in der südwestdeutschen Historiographie bislang eher weniger beachtetes Kapitel aufzuarbeiten. Viele der präsentierten Exponate sind erstmals überhaupt in der Öffentlichkeit zu sehen. Obwohl durch das jähe Ende der Freimaurerbewegung in der NS-Zeit viele Zeugnisse vernichtet worden sind, kann man davon ausgehen, dass es allein in Württemberg mehr als 5000 Männer - unter ihnen auch Angehörige des Hauses Württemberg - waren, die sich seit den Anfängen der Freimaurerei im 18. Jahrhundert der „königlichen Kunst“ widmeten und mit ihren gelebten Idealen auch die geistig-politische Entwicklung des Landes mitgeprägt haben.

Die Wurzeln der neuzeitlichen Freimaurerei liegen in England. Am 24. Juni 1717, also am heutigen Samstag auf den Tag genau vor 300 Jahren, wurde in London mit dem Zusammenschluss von vier Logen zur Grand Lodge of England die erste Großloge der Welt ins Leben gerufen. 20 Jahre später folgte in Hamburg die erste deutsche Loge, und wiederum Jahrzehnte später fasste die freimaurerische Bewegung auch in Württemberg Fuß.

Genauer gesagt finden sich die ersten württembergischen Spuren in Magdeburg, wo sich während des Siebenjährigen Krieges eine Gruppe württembergischer Offiziere zusammentat und 1762 ein Logengründungspatent erhielt. Diese Militär-Loge erhielt den Namen „La parfaite Union“ und nahm, nachdem die Offiziere aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren, in Ludwigsburg und in Stuttgart ihre Arbeit auf. Nach Differenzen - wohl auch über die rechte Disziplin bei der Tempelarbeit - trennten sich die Stuttgarter Brüder und gründeten 1774 ihre eigene Loge „Zu den 3 Cedern“, die noch heute existiert. Sie ist eine von derzeit fünf Stuttgarter Logen und hat diese Ausstellung nicht nur angeregt, sondern auch zahlreiche Leihgaben aus ihren Beständen zur Verfügung gestellt - darunter eine historische Sammlung von Bijoux, also Logenabzeichen. Auf ihnen sind ebenso wie auf den aus dem Münzkabinett des Landesmuseums Württemberg stammenden Medaillen häufig einschlägige Symbole wie Hammer, Kelle, Senkblei, Winkelmaß und Zirkel abgebildet. Sie sind an die Werksymbole mittelalterlicher Bauhütten als historische Vorbilder für die geistige Arbeit am Tempel der Humanität angelehnt und finden sich auch auf Arbeitsteppichen und Alltagsgegenständen wie Taschenuhren und -messern oder Zigarrendosen.

In einer weiteren Ausstellungsinszenierung wird dem Besucher Einblick in die zentrale Tempelarbeit gewährt. Bei diesem freimaurerischen Kultus handelt es sich freilich nicht um eine religiöse oder gar missionarische Unternehmung. Die Freimaurerei versteht ihre „Menschenverbesserungsarbeit“ in einem gänzlich undogmatischen Sinn - ganz so, wie es auch ein Gemälde von Eberhard Frank, dem ehemaligen Leiter der Graphischen Fachschule Stuttgart, zeigt: als beharrliche Arbeit am „rauen Stein“, der als Sinnbild des ethisch „unbehauenen“ Menschen fungiert. Sie bildet die Basis im mehrstufigen Selbstvervollkommnungsprozess, der vom Lehrlings- über den Gesellen- bis hin zum Meistergrad führt und in der unterschiedlichen Gestaltung des freimaurerischen Werkschurzes, also der symbolhaften „Arbeitskleidung“ der Brüder, seine ästhetische Entsprechung findet.

Und doch sind neben den handwerklichen Bezügen Anleihen aus dem religiösen Bereich in der freimaurerischen „Liturgie“ unübersehbar. Sogar einen Freimaurer-Katechismus gab es, wie das Exemplar aus dem Besitz des Herzogs Heinrich von Württemberg (1772-1838) beweist. Die zentrale „Tempel“-Installation zeigt ein Ensemble, in dem die profane Werksymbolik von einer quasisakralen Aura umgeben ist: Auf einem „Altar“ liegen Winkel, Zirkel, ein heiliges Buch sowie ein Hammer (als Instrument des Rituals). Dahinter befindet sich der Sitz des Meisters vom Stuhl, also des Logen-Vorsitzenden, davor der von drei Kerzenständern gerahmte Arbeitsteppich - in diesem Fall stammt er aus der Gründungszeit der Reutlinger Freimaurerloge „Glocke am Fuße der Alb“, die am Ende des 19. Jahrhunderts als Tochterloge der Stuttgarter Loge „Zu den 3 Cedern“ entstand. Der Arbeitsteppich ist sozusagen das emblematische „Allerheiligste“ im „Tempel“ der Humanität, dessen reales Vorbild bereits für die mittelalterlichen Steinmetze der biblische Tempel Salomos war.

Die Prosa der menschenbildnerischen Arbeit im Alltag schließt die Pflege der weltlichen Poesie und Festkultur nicht aus. Sie sind vielmehr ein fester Bestandteil im Jahreskalender der Brüder. Auch hierfür hält die Schau zahlreiche Beispiele bereit. Vor allem das Johannisfest, bei dem sich auch am heutigen 24. Juni die freimaurerischen Logen wieder ihres Patrons Johannes‘ des Täufers erinnern, bietet Gelegenheit zu einem besonders feierlichen Ritual: dem der „Tafelloge“. Eine Menükarte verrät die Speisenfolge bei dem von allen Stuttgarter Logen gemeinschaftlich begangenen Johannisfest von 1910: Es gab Königin-Suppe, Bodensee-Forellen, Rehbraten, Ente mit Dunstobst, Ananas-Bombe, Eisgebäck und Käse.

Auch die Musik - und hier wiederum der freimaurerische Genius Mozart - spielt seit jeher eine wichtige Rolle, wie ein Notenblatt von 1796 dokumentiert. Es enthält eine Schlüsselarie („In diesen heil’gen Hallen“) des Sarastro aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“, die nicht nur am Stuttgarter Hof, sondern auch in der Residenz der fürstlichen Linie Hohenlohe-Bartenstein zur Aufführung kam - mit Prinzen des Hauses als Gesangssolisten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das zunächst florierende Logenleben in Württemberg allerdings bereits einen Rückschlag hinnehmen müssen. Herzog Carl Eugen, dem möglicherweise die freidenkerische und räumliche Nähe der württembergischen Logenbrüder zu den französischen „Illuminaten“ suspekt war, hatte 1784, also wenige Jahre vor der Französischen Revolution, im Herzogtum Württemberg die Freimaurerei untersagt. Erst Jahrzehnte später konnten unter König Wilhelm I. die württembergischen Logen ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Neue Logen entstanden, unter anderem auch in Esslingen, wo 1864 das anfangs im Palm’schen Bau tagende Freimaurerkränzchen „Zur Katharinenlinde“ unter dem Schutz der Stuttgarter Loge „Wilhelm zur aufgehenden Sonne“ gegründet wurde. Auch bei dieser Gründung taten sich insbesondere Vertreter des gehobenen Bürgertums, Fabrikanten, Unternehmer und Freiberufler sowie Gelehrte, Musiker und Künstler hervor.

Wechselvolle Geschichte

In der Weimarer Republik erlebte auch die Freimaurerei in Württemberg noch einmal eine Blüte. Doch auf sie fiel bereits der Schatten von Schmähschriften völkischer Kreise, die den Mythos einer freimaurerischen Weltverschwörung befeuerten und die Logenbrüder auch für den angeblichen Schmachfrieden von Versailles verantwortlich machten.

Die Nazi-Propagandisten, allen voran NS-Chefideologe Alfred Rosenberg, knüpften nahtlos an diese Hetze gegen die „judenhörige Freimaurerei“ an. Es folgte ein Verbot der Bewegung, Logen wurden liquidiert, Vermögen beschlagnahmt, Mitglieder verfolgt. Auch wenn nach 1945 von überlebenden Brüdern die Logenarbeit wieder erfolgreich reaktiviert werden konnte, hat sich die Freimaurerei von diesem schmerzhaften Einschnitt in ihre jahrhundertealte Tradition nie mehr ganz erholt. Inzwischen gibt es in Deutschland wieder 15 000 Brüder - in der Blütezeit während der Weimarer Republik waren es einmal über 82 000. Heute arbeiten 600 Brüder in 16 aktiven Logen in Württemberg.

Die Freimaurerei ist übrigens keine reine Männersache. Schon seit der Weimarer Republik gibt es in Deutschland gemischte Logen, nach 1945 entstanden auch reine Frauenzirkel. Der einzige württembergische ist in Reutlingen beheimatet. Von den Vereinigten Großlogen von Deutschland sind die Schwestern unter der Achalm allerdings bislang so wenig offiziell anerkannt wie ihre Kolleginnen in den anderen 25 Frauenlogen.

Die Ausstellung „Gelebte Utopie. Auf den Spuren der Freimaurer in Württemberg“ ist bis zum 22. September im Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu sehen. Öffnungszeiten: montags 10 bis 17 Uhr, dienstags und mittwochs 8.30 bis 17 Uhr, donnerstags 8.30 bis 19 Uhr sowie freitags 8.30 bis 16 Uhr. Zur Ausstellung ist ein reich bebilderter Begleitband erschienen.

www.landesarchiv-bw.de