Figuren aus einer surrealen Welt: Szene aus der LTT-Produktion „Herz der Finsternis“. Foto: Sigmund Quelle: Unbekannt

Von Elisabeth Maier

Tübingen - Eine offene Wunde ist die belgische Kolonialgeschichte im Kongo bis heute. Der Brite Joseph Conrad hat das Thema 1899 in seiner Novelle „Herz der Finsternis“ untersucht. Der britische Seemann Marlow reist in die afrikanische Kolonie, die der belgische König Leopold II. brutal unterworfen hat. Dort trifft er auf den Elfenbeinhändler Kurtz. Regisseurin Carina Riedl hat das sprachstarke Werk am Landestheater Tübingen als Alptraum einer Unterwerfung in Szene gesetzt. Dabei setzt sie auf Bilderwelten, die wenig mit der Düsternis der schwarzen Kontinents zu tun haben. Mit den Schauspielern erschafft sie ein ganz eigenes Universum, das schreckliche Seelenwelten spiegelt.

„Unser Bild vom Kolonialismus ist bis heute von Conrads Novelle geprägt“, findet LTT-Dramaturgin Kerstin Grübmeyer. Deshalb ist sie mit Regisseurin Carina Riedl selbst in den Kongo gefahren, um sich ein Bild vom Leben der Menschen dort zu machen. Im Goethe-Institut trafen die zwei Frauen junge Intellektuelle aus dem afrikanischen Land, die neue geistige Horizonte suchen. „Eine Recherchereise sollte das nicht sein“, sagt Grübmeyer. Dem Tübinger Regieteam ging es darum, das Leben in der Demokratischen Republik Kongo kennenzulernen, die noch immer von Krieg und Korruption gezeichnet ist.

Wie kolonialistisches Denken bis heute den Alltag der Menschen in Europa bestimmt, interessiert Regisseurin Riedl in der dichten, surreal strukturierten Arbeit. Deshalb hat sie in der stark gekürzten Textfassung die Figurenkonstellation des britischen Dichters aufgebrochen. Conrads antiquierte Figuren sind auf Typen reduziert, die durch Fieberträume geistern. Conrads eurozentrische Gedanken über Kolonialismus stellt die Regie auf den Prüfstand. Fatima Sonntags Bühne ist ein abgewrackter roter Salon, der den elitären Geist von Kolonialgesellschaften atmet. Totemfiguren hängen in einer Vitrine. Mit solchen Trophäen schmückt sich die westliche Macht. Schmutz und nackte Gewalt, die Conrads Sprachbilder eigentlich prägen, klammert das Regieteam ganz aus. In dieser ungewöhnlichen Kulisse agieren die Schauspieler wie Figuren aus einer Traumwelt. Heiner Kocks weißer Mann balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Rassenhass und Angst vor dem Fremden. Herrschaftsdenken treibt Daniel Tille als Ziegelbrenner um. Laura Sauer als Narr jongliert mit dem Text, der vor brutalen Bildern strotzt, so leicht, als handelte es sich um einen Groschenroman. Michael Ruchter als Norne strickt am Faden des Schicksals. Als „die Frau“ spielt Thomas Zerck mit Geschlechterrollen. Denn Unterdrückung und Gewalt sind in Riedls kluger Regie nicht auf die Kolonialzeit beschränkt. Klug schafft sie Bezüge, die nachvollziehbar sind.

Starke Emotionen machen den Reiz der bemerkenswerten Regiearbeit aus. Carina Riedl holt Joseph Conrads literarische Studie des brutalen belgischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert ganz nah in die Gegenwart. Auch wenn heute eher mit wertvollen Rohstoffen als mit Elfenbein gehandelt wird, liegt die Aktualität des Stoffs auf der Hand. Das Schauspielensemble überzeugt nicht nur durch einen sensiblen, poetischen Zugriff auf Conrads Text, zeitgemäß ins Deutsche übersetzt von Manfred Allié. Distanziert betrachten die Spieler die dunkle Novelle aus der Wildnis, entlarven Mechanismen des Herrenmenschendenkens aus ungewohntem Blickwinkel. Das regt im besten Sinn zum Nachdenken an.

Weitere Aufführungen: heute, 30. Mai, 10. und 30. Juni sowie 21. Juli.