Das Ölgemälde von Leonid Pasternak aus dem Jahr 1928 zeigt Rainer Maria Rilke vor dem Kreml. Foto: DLA Quelle: Unbekannt

Von Dietholf Zerweck

Marbach -Die Begegnung des jungen Rainer Maria Rilke mit Russland als Sehnsuchts- und Hoffnungsraum an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine der prägendsten Erfahrungen des Dichters und kennzeichnet zugleich die Anziehungskraft einer noch unverbrauchten Kultur, von der Stefan Zweig noch nach der Oktoberrevolution von 1917 „das Kindliche und Rührende, das Kluge und noch Unbelehrte dieser Menschen“ rühmte, gegenüber einer zivilisatorischen Dekadenz des Westens.

Das ist der Ansatzpunkt der von Thomas Schmidt kuratierten Ausstellung „Rilke und Russland“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach, die in Kooperation mit dem Staatlichen Russischen Literaturmuseum und dem Schweizer Literaturarchiv in Bern entstanden ist. Gerade im Zeitpunkt schwieriger Beziehungen zwischen Europa und dem heutigen Russland kann eine solche Ausstellung womöglich neue Perspektiven eröffnen, was auch die Rednerliste zur Eröffnung der Ausstellung deutlich macht: Neben den Direktoren der drei beteiligten Institutionen sind unter anderem der Generalkonsul der Russischen Föderation und der Russland-Beauftragte der deutschen Bundesregierung eingeladen.

„Mir zittern die Sinne“

„Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe“, schreibt der 27-jährige Rainer Maria Rilke 1903 an Lou Andreas-Salomé, mit der er 1899 und 1900 zwei bedeutungsvolle Reisen ins Land seiner Sehnsucht unternommen hatte. Mit den Augen der in St. Petersburg geborenen Schriftstellerin, der er zwei Jahre zuvor in München begegnet ist und die dann seine Geliebte wird, lernt Rilke die russische Kunst und Literatur kennen. Tolstoi, den er auf seiner ersten Reise mit dem Ehepaar Andreas-Salomé im Moskau trifft, ist für die beiden „Eingangstor zu Russland“, doch sein Besuch der russischen Osternacht mit dem Klang der Kreml-Glocke hallt noch nach im ersten Gedicht des „Stundenbuchs“ im „Buch vom mönchischen Leben“: „Da neigt sich die Stunde und rührt mich an / mit klarem, metallenem Schlag: / mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann / und ich fasse den plastischen Tag.“

Für Rilke, der zunächst Kunstschriftsteller werden will und in den Museen von St. Petersburg und Moskau die russischen Maler studiert, ist die sinnliche Erfahrung, das Schauen der entscheidende Bezugspunkt seiner Russlandliebe. Im ersten Ausstellungsraum - mit dem Motto „Auf Goldgrund gemalt“ auf Deutsch und Russisch - sind die Themen der Ausstellung mit Exponaten in schlanken, hohen Vitrinen kurz angerissen: Rilkes slawische Wurzeln in Prag, die lebenslange Beziehung zu Lou Andreas-Salomé als Geliebter, Mentorin und Mutterfigur, sein Baedeker mit Notizen, seine Russisch-Studien, wichtige Figuren wie der Ikonenmaler Leonid Pasternak, der Heimatdichter Spridion Droshshin und die späte Brieffreundin Marina Zwetajewa.

Boris Pasternak lernt Rilke als Zehnjährigen an der Hand seines Vaters im Zug nach Moskau kennen - er wird später einer seiner größten Bewunderer und Übersetzer in Russland: „Hört, dass Du’s weißt im Rainerland / vertrete ich allein Russland“ wird der Autor von „Doktor Schiwago“ im Andenken an Rilke dichten.

„Im Kampf um Gott“ hat Lou Andreas-Salomé unter dem Pseudonym Henri Lou ihren ersten Roman betitelt, und Gottsuche ist für die von Nietzsches Überzeugung „Gott ist tot“ affizierten Liebenden bei ihrer zweiten Reise von Moskau über Kiew an die Wolga ein wesentliches Motiv. „Mit einem Türmchen, in dem die Gottesglocke wohnt. Niedrige Türen. Zimmer mit Ikonen und einer kleinen Bank“: Hier findet Rilke - und schreibt davon seiner Mutter - in einer Bauernhütte in Kresta Bogorodskoje das einfache Leben.

Stube im Herzen Gottes

Drei Tage halten sie es in der Isba aus, dann geht es zum Besuch von Galerien und der Erlöserkirche wieder zurück nach Moskau - und weiter zum Bauerndichter Spiridon Droshshin nach Nisowka. Der bis dahin heimatlose Dichter glaubt nun im Angesicht von russischer Kunst und Literatur eine neue Heimat gefunden zu haben: „Die letzte, heimlichste Stube im Herzen Gottes. Seine schönsten Schätze sind darin.“

In einem in Schönschrift verfassten, langen Brief an Alexei Suworin, den russischen Herausgeber von Tschechow vom März 1902, der im dritten Ausstellungsraum unter dem Motto „Rilke ganz russisch“ gezeigt wird, schreibt der Dichter aus Deutschland, mitten in Plänen für Übersetzungen von Tolstoi und Tschechow und Monografien über russische Maler: „Ich bin ein Einsamer und Überzähliger in diesem Lande, in welchem es keine Demuth gibt und keinen Gott für Schweigsame und Demütige. Und ich würde glauben, dass ich überall so einsam und verloren und überzählig wäre, wenn ich nicht zweimal in Russland gewesen wäre, wo ich erkannte, dass es eine Heimat für mich giebt, ein Erdreich, in dem ich Wurzeln schlagen, ein Volk, das ich lieben könnte, - das ich liebe.“ Stattdessen siedelt Rilke kurze Zeit später nach Paris über und gerät unter den Einfluss von Auguste Rodin und der Moderne.

Fotoserien der Fotografen Barbara Klemm und Mirko Krizanovic aus der Gegenwart der von Rilke bereisten Orte in Russland ergänzen die Ausstellung, zu der ein reich bebilderter Katalog mit Texten, Briefen und Tagebuchauszügen erschienen ist. In einem weiteren Raum wird die Rezeption Russlands durch deutsche Schriftsteller von Stefan Zweig bis Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger dokumentiert.

Die Ausstellung ist bis zum 6. August im Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach zu sehen, danach in Bern, Zürich und Moskau.

www.dla-marbach.de