Henry Sugar (Benedict Cumberbatch) hat in „Ich sehe was, was du nicht siehst“ so viel Geld, dass er es buchstäblich aus dem Fenster werfen kann. Foto: Courtesy of Netflix

Wes Anderson beweist mit seinem Roald-Dahl-Zyklus bei Netflix Gespür und Verantwortung für literarische Werke – mehr als mancher Verlag.

Literaturverfilmungen haben es besonders schwer, als „gut“, „gelungen“ oder sogar „künstlerisch wertvoll“ akzeptiert zu werden. Der Film käme an das Buch nicht heran, heißt es oft, und könne die ausgeklügelte Sprache des Autors nicht in die viel schwächeren Bilder eines Films übersetzen. Dabei belegen unzählige Beispiele das Gegenteil. Der Amerikaner Wes Anderson etwa ist bekennender Fan der Erzählungen Roald Dahls und brachte 2009 dessen Kinderbuch „Der fantastische Mister Fox“ als Stop-Motion-Puppentrick-Adaption auf die Leinwand, die mit ihrem schrägen Humor auch Erwachsene adressierte.

Nun hat Anderson, wie Dahl ebenfalls Meister einer eigenständigen (Bild-)Sprache, vier Kurzgeschichten des 1990 verstorbenen Autors für den Streamingdienst Netflix adaptiert. Die erste, „Ich sehe was, was du nicht siehst“, fabuliert, wie der wohlhabende Junggeselle Henry Sugar (Benedict Cumberbatch) nach der Lektüre eines Buches lernt, telepathisch zu sehen. Sugar erschummelt sich daraufhin am Spieltisch einen noch größeren Reichtum, den er schließlich, anstatt ihn weiter buchstäblich aus dem Fenster zu werfen, in Krankenhäuser investiert. Während dieser erste, heitere Film immerhin 39 Minuten lang ist und mehrere ineinandergeschachtelte Geschichten mit erlesenem Ensemble (unter anderem Dev Patel, Ben Kingsely) verhandelt, fallen die dunkler schattierten Erzählungen „Der Schwan“, „Gift“ und „Der Rattenfänger“ mit jeweils 17 Minuten wesentlich knapper aus.

Wer Andersons niedlich bonbonfarbene, penibel eingerichtete Puppenhauswelten schätzt, wird an den Miniaturen schon allein wegen ihrer ausgefeilten Ästhetik Spaß haben. Roald-Dahl-Leser freuen sich am exakten Wortlaut der Texte, die Anderson über Erzählerfiguren in seine Filme integriert. Ralph Fiennes agiert als kauziger Roald Dahl, der in seiner Gartenlaube „Gipsy House“ neue Ideen entwickelt. Dazu treten in den einzelnen Episoden weitere Erzähler auf, die den Zuschauer durch die Handlung führen.

Während Anderson in „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit diversen opulenten Interieurs und Plotebenen jongliert, spielt die tragische Geschichte „Der Schwan“ über einen von Kindern gequälten Jungen im karg begrenzten Setting zwischen Heuhaufen und am Rand einer Bahnlinie. „Gift“ kreist fast ausschließlich um das Bett eines Mannes, der sich vor dem tödlichen Biss einer auf seinem Bauch eingeschlafenen Schlange fürchtet, sich dann aber als Rassist entpuppt. „Der Rattenfänger“ schildert eine kleine Straßenszene und lässt Männer verschiedener sozialer Schichten aufeinandertreffen.

Der poetische, mal traurige, mal schwarz-humorige Tonfall von „Der Schwan“, „Gift“ und „Der Rattenfänger“ wirkt im Zusammenhang mit Andersons bewusst antiquierter Ästhetik besonders intensiv. Der Filmemacher konserviert und bebildert Dahls eigentümlichen Witz bis ins sprachliche Detail und entpuppt sich so als Bewahrer der Literatur, während Dahl-Neuausgaben des englischen Puffin-Verlags zuletzt von Formulierungen bereinigt wurden, die angeblich nicht mehr dem Zeitgeist entsprechen. Eine seltsame Pointe!

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