Ein Kaplan segnet einen Gefechtsgraben in der Region um Charkiw am Vorabend des orthodoxen Osterfests. Foto: AFP/Sergey Bobok

Die Pentagon-Leaks haben die Erwartungen an die ukrainische Frühjahrsoffensive gedämpft. Wie geht es weiter im russischen Angriffskrieg?

Es läuft nicht gut für die Ukraine. Die angekündigte Frühjahrsoffensive scheint bereits gescheitert zu sein, bevor sie begonnen hat. Es mangelt weiter an Waffen, an Munition und Soldaten. Das zumindest ist der Eindruck, seit im Internet US-Geheimpapiere zum russischen Angriffskrieg aufgetaucht sind. Die sogenannten Pentagon-Leaks schüren die Zweifel an den Fähigkeiten der Verteidiger, das militärische Patt des Winters zu überwinden. Kiew werde seine Ziele vermutlich „weit verfehlen“, lautet eine Kernaussage in den durchgestochenen Dokumenten. Demnach gehen die USA und ihre Nato-Verbündeten nicht davon aus, dass die Ukraine in großem Stil russisch besetzte Gebiete zurückerobern kann.

Sogar die Rückeroberung der Krim schien möglich

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass westliche Fachleute selbst die kühnsten Szenarien für denkbar hielten: einen ukrainischen Durchbruch von Saporischschja über Melitopol zum Asowschen Meer, Angriffe auf die Krim, einen erfolgreichen Gegenschlag bei Bachmut. Am Ende werde die russische Armee nach zu vielen Niederlagen womöglich kollabieren. Besonders in Deutschland waren sogar Stimmen zu hören, die mahnten, man müsse die Führung in Kiew im Zweifel stoppen: Bevor der russische Präsident Wladimir Putin keinen anderen Ausweg mehr sehe, als Atomwaffen einzusetzen.

Waffen waren immer knapp

Und nun plötzlich dieser Tenor: Die ukrainischen Hoffnungen auf Befreiung sind wohl nur überschießende Träume in diesem beginnenden Frühling. Erstaunlich an diesem Umschwung in der westlichen Wahrnehmung ist vor allem, dass sich die faktische Lage durch das US-Datenleck wenig bis gar nicht verändert hat. Die Führung in Kiew wird ihre operativen Pläne im Detail nachbessern müssen, weil der Gegner aus den Dokumenten gewisse Rückschlüsse ziehen kann. Aber sonst?

Dass es der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf an Menschen und Material mangelt, ist seit dem ersten Kriegstag bekannt. Selenskyjs Ruf nach „Waffen, Waffen, Waffen“ ist in den vergangenen 13 Monaten so wenig verstummt wie die Berichte über fehlende Munition. Hinzu kommen die Folgen der Abnutzungsschlachten des Winters. „Man muss ja nur mitzählen, sich die Stärke der ukrainischen Armee ansehen und die Schätzungen der Verluste“, sagt der Münchner Militärexperte Carlo Masala. Auch die Frage, wie mobilisierungsfähig die Ukraine noch ist, stelle sich nicht erst seit den Pentagon-Leaks. Masala hegt dennoch keinen Zweifel, dass die Frühjahrsoffensive kommen wird – mit ungewissem Ausgang.

Der Ukraine könnten die Soldaten ausgehen

Das sieht der Wiener Militärexperte Markus Reisner genauso. Die Ukraine müsse zwingend eine Angriffswelle losbrechen, um den andauernden Stellungskrieg zu überwinden. Andernfalls bleibe die russische Artillerie mindestens um den Faktor 6 überlegen.

„Die Sorge, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen, ist berechtigt“, sagt Reisner. Zumal auf der anderen Seite der Kreml gerade erst die Mobilisierung frischer Kräfte erleichtert hat. Einberufungsbescheide sollen künftig per E-Mail zugestellt werden können. Wer das Schreiben erhält, darf das Land nicht mehr verlassen. Die Zeit arbeitet daher für die russische Armee. Und das gilt auch für die aktuelle Lage an der Front: Je länger die Führung in Kiew mit dem Angriffsbefehl wartet, desto besser kann sich der Gegner vorbereiten.

Zuletzt berichtete der britische Geheimdienst, Russland habe den Bau von drei hintereinander gestaffelten Verteidigungslinien im Gebiet Saporischschja abgeschlossen. Eine Offensive in dieser Region gilt als wahrscheinlichste Variante, weil es von dort nur gut 100 Kilometer bis zum Asowschen Meer sind. Gelänge ein Vorstoß bis zur Küste, könnte die ukrainische Armee die Landverbindung der russischen Truppen zur Krim abschneiden und die annektierte Halbinsel selbst ins Visier nehmen.

Die Panzer sind längt eingetroffen

Bleibt die Frage: Warum hat die Offensive nicht schon begonnen? Schließlich sind die lang ersehnten westlichen Kampfpanzer vor Ostern in der Ukraine eingetroffen und dürften mittlerweile einsatzbereit sein. Militärexperte Reisner verweist auf das hohe Gewicht der deutschen Leopard 2 und der britischen Challenger. Solange an der Front die berüchtigte Schlammperiode anhalte, sei die Gefahr zu groß, dass die westlichen Panzer stecken bleiben. Deren wichtigster Vorteil ist im Vergleich zu den russischen Systemen die hohe Dynamik. Deswegen sei der richtige Zeitpunkt für den Beginn der Offensive entscheidend, sagt Reisner.

Es gibt keine Bereitschaft zum Verhandeln

Denn wenn der Angriffsbefehl komme, müsse alles extrem schnell gehen. Folgt man den Ausführungen des österreichischen Militärexperten, wird sich das Gesicht des Krieges in den kommenden Wochen radikal verändern. Die Ukraine wird dann mit den hochbeweglichen Verbänden, die sie um die westlichen Kampfpanzer formiert hat, versuchen, Schwerpunkte zu bilden und an einer oder zwei Stellen der Front entscheidende Durchbrüche zu erzielen. Wo das geschehen soll, will die Führung in Kiew kurzfristig entscheiden. Auch deshalb dürften sich die Auswirkungen des Pentagon-Datenlecks auf den Kriegsverlauf in engen Grenzen halten.

In einem Punkt aber sind die geleakten Dokumente womöglich doch aufschlussreich. Sie zeigen, dass die US-Geheimdienste faktisch keine Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite erkennen – und zwar unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Offensive. So sieht es auch Oberst Reisner: „Wenn es in Russland keine Revolution gibt, wird Putin weitermachen.“ Weil er die Zeit auf seiner Seite hat.