Emotionales Geflecht aus Freundin, Tochter, Mann und Vater Foto: ARD Degeto/Odeon Fiction GmbH Foto:  

Die ausgezeichnet gespielte Fernsehserie „37 Sekunden“ beleuchtet einen Graubereich: Wo endet die Einvernehmlichkeit, wann beginnt die Nötigung?

Die Partygäste sind guter Dinge, die Geburtstagsstimmung ist ausgelassen, bloß eine junge Frau wirkt bedrückt; die Flasche Wein, die sie mitgebracht hat, leert sie kurzerhand zur Hälfte selbst, bevor sie sie dem Mann überreicht, in den sie sich verliebt hat. Carsten Andersen, ein prominenter Sänger, ist mindestens doppelt so alt und verheiratet. Die Liaison hat keine Zukunft, das Paar beendet sie einvernehmlich. So wird Carsten später auch den Abschiedssex in seinem Musikstudio bezeichnen. Leonie hat das anders empfunden, sie hat unmissverständlich „nein“ gesagt, aber als Carsten gehen wollte, hat sie ihn zurückgehalten und sich nicht mehr gegen die Penetration gewehrt.

Die von Julia Penner initiierte Serie „37 Sekunden“ beleuchtet einen Graubereich: Wo endet die Einvernehmlichkeit, wann beginnt die Nötigung? Die Kamera bleibt dran, als sich das Paar trifft. Später, als Carsten und Leonie einem Polizisten schildern, wie sie die Begegnung erlebt haben, und sich die Rückblenden auf die entsprechenden Perspektiven konzentrieren, wird deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ein und desselben Ereignisses sein kann, denn beide Interpretationen sind nachvollziehbar.

Der eigene Vater ein Vergewaltiger?

Neben dem Dänen Jens Albinus als charismatischem Liedermacher beeindruckt „37 Sekunden“ vor allem durch das nachdrückliche Spiel von Paula Kober als Leonie. Darstellerisch wie auch inhaltlich besonders wird die Serie zudem durch Emily Cox. Ihre Rolle sorgt dafür, dass die sechs Episoden neben dem Vergewaltigungsvorwurf zunächst auch von einem Loyalitätsdilemma handeln: Anwältin Clara ist Leonies beste Freundin. Als die Nachwuchsmusikerin der Juristin von dem Vorfall berichtet, ohne allerdings den Namen ihres Ex-Freundes zu nennen, rät Clara ihr dringend, zur Polizei zu gehen. Ihre Haltung ändert sich, als sie erfährt, dass es sich bei dem Vergewaltiger um ihren Vater handelt.

Bald sind die Rahmenbedingungen klar, sodass sich die Frage stellt: Trägt die Handlung über 270 Minuten? Die lange Strecke hat jedoch den unschätzbaren Vorteil, dass Penner, die mit David Sandreuter einen männlichen Co-Autor hinzugezogen hat, und die Schweizer Regisseurin Bettina Oberli die Geschichte differenziert erzählen können. Ausführliche, aber nie langwierige Szenen beleuchten das emotionale Geflecht des zentralen Trios: hier die nach dem Tod der Mutter umso intensivere Beziehung zwischen Vater und Tochter, dort die Freundschaft der beiden jungen Frauen.

Gänsehautguter Auftritt

Für Carsten kommt der Skandal zu einem ungünstigen Zeitpunkt: In Kürze erscheint ein neues Album, die Tournee ist ausverkauft. Aber auch Leonie leidet, und das nicht nur unter dem traumatischen Erlebnis: Die Anwältin, die Clara ihr empfohlen hat, empfiehlt die Löschung aller verfänglichen Posts und Fotos, weil sie ahnt, dass die Gegenseite die „Schlampentaktik“ anwenden werde. Tatsächlich wird es schmutzig; Marc Benjamin macht als Andersens Anwalt aus seiner Szene während der Verhandlung, als er Leonies Anzeige perfide zum „Karriere-Booster“ umdeutet, einen gänsehautguten Auftritt.

Zu Beginn der Drehbuchentwicklung durch Penner stand die Frage, ab wann aus Sex eine Vergewaltigung wird. Das war 2016, die Reaktionen auf den Stoff waren durchwachsen; dann wurde 2017 der Weinstein-Skandal publik, Metoo war geboren. Als klar war, dass sich solche Delikte durch die gesamte Gesellschaft ziehen, rückte die Autorin einen zweiten Aspekt ins Zentrum: Warum wechselt Clara so vorbehaltlos die Seite, als sie erfährt, wer der Vergewaltiger ist?

37 Sekunden: ab 4. 8. in der ARD-Mediathek