An der Unfallstelle beim Ufa-Palast erinnert ein Herz an die Opfer des Unfalls mit dem gemieteten Jaguar am 6. März. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko - Lichtgut/Max Kovalenko

Im Jaguar-Prozess soll sich die Verhandlung nicht nur um den Unfall und den Verursacher drehen. Deswegen hat die Vorsitzende Richterin die Eltern der Opfer gebeten, von ihren verstorbenen Kindern zu erzählen.

StuttgartIhre kleine Motte hat immer geredet. „Und wenn sie nicht geredet dann hat sie gesungen.“ So beschreibt die 49-jährige Mutter ihre Tochter. „Sie fehlt mir so“, fügt sie hinzu. Dann bricht sie in Tränen aus. Am 6. März dieses Jahres hat die Mutter ihre kleine Motte verloren – so nannte sie ihre Tochter, als sie noch klein war. Jaqueline wurde 22 Jahre alt. Sie starb bei dem Raser-Unfall mit einem gemieteten Jaguar an der Stuttgarter Rosensteinstraße, zusammen mit ihrem drei Jahre älteren Freund Riccardo. Am Montag bekamen die beiden Opfer des Unfalls eine Stimme. Die Vorsitzende Richterin wollte den Eltern die Gelegenheit geben, den Verfahrensbeteiligten zu erzählen, wie ihre Kinder waren.

„Sie wollte reisen, reisen, immer weiter, und hat schon so viele Länder bereist“, sagt die Mutter über die 22-Jährige Jaqueline. Deswegen habe sie neben dem Studium gejobbt. Erst sei ihre Wahl auf International Management and Business als Studienfach gefallen, an der Uni in Bochum. Doch Jaqueline habe auf Betriebswirtschaftslehre umgesattelt. Denn der Studiengang sei mit einem Auslandssemester verbunden gewesen. Und auch wenn Jaqueline so gerne gereist sei, eins hielt sie dann doch zuhause: Ihr Freund Ricardo. Den habe sie bei einem der Jobs zur Finanzierung ihrer Reiseträume kennengelernt. Viel habe die sonst so gesprächige Tochter nicht über den jungen Mann rausgelassen – zunächst. „Da ist so ein komischer Typ“, habe es geheißen. Aber dann sei der komische Typ wohl doch sympathisch geworden. Zwar habe es noch eine Art Beziehungspause gegeben während die junge Frau als Au-pair in den USA war. Doch danach, im Jahr 2016, seien sie ein Paar geworden. Im Oktober 2018 zog sie mit ihm nach Stuttgart, weil er dort einen Job als Theaterleiter im Ufa-Palast am Nordbahnhof angeboten bekommen hatte. Dort, wo sie fünf Monate später nach Feierabend starben.

Die letzte Begegnung

Am 23. Februar habe sie ihre Tochter zuletzt gesehen, wenige Tage vor dem tödlichen Unfall an der Rosensteinstraße. Da habe die Tochter erzählt, dass sie sich wieder umorientieren wolle. Touristik im Fernstudium sollte es nun werden. „Normalerweise hätte ich da geschimpft. Aber an dem Wochenende nicht. Da hab ich gesagt, ‚Du bist alt genug’, mach das’“, erinnert sich die Mutter an die letzte Begegnung mit ihrer einzigen Tochter. Seit dem Unfall seien ihr Ehemann und sie in psychologischer Behandlung. Das helfe. Aber Schlafstörungen und Panikattacken habe sie noch. Und wieder kommen ihr die Tränen. „Es ist so still geworden ohne sie“, sagt die Mutter über ihre Jaqueline.

Riccardos Vater übernimmt für seine Familie die Aussage über den ums Leben gekommenen Sohn. Mit seiner Frau verfolgt er das Verfahren. Riccardos sieben Jahre älterer Bruder ist ebenfalls Nebenkläger. Doch ist der Platz neben seinem Anwalt seither leer geblieben. „Er schafft es nicht, er kommt nicht“, sagt sein 55-jähriger Vater. Und er erzählt auch warum: Als die Polizei in jener Nacht klingelte, um die Familie über den Tod des 25-Jährigen zu informieren, sei der große Bruder angerannt gekommen – er wohne in der Nähe. „Er hatte das Handy in der Hand und sagte es stimmt!“ Was auf dem Handy war, habe den Bruder so nachhaltig schockiert, dass er sich mit dem Thema Unfall nach wie vor nicht befassen könne: „Da war ein Foto vom Unfall drauf, da sah man die Toten im Auto“, sagt der 55-Jährige. Das Foto sei inzwischen nicht mehr im Internet, der Schock sei aber geblieben.

Er wollte nach Stuttgart

Die Familie sei dagegen gewesen, dass Riccardo nach Stuttgart gehe. Alle leben in Kaarst bei Düsseldorf. Er hätte auch besser dort bleiben sollen. Aber er wollte nach Stuttgart. Wobei er dem Ufa-Palast nur unter einer Bedingung zugesagt habe: „Nur wenn sie für Jaqueline auch einen Job haben“, habe er sich ausbedungen. Das hatte das Kino, und die Eltern akzeptierten den Umzug. Die Familie habe Weihnachten zusammen im Rheinland gefeiert. In der ruhigen Zeit zwischen Weihnachten und Silvester hätten sie sich dann mal angeschaut, wo ihr Junge gelandet sei. Auch Riccardos Eltern brauchen psychologische Hilfe. Der Vater konnte vier Monate lang nicht arbeiten. Noch heute habe er im Job Probleme. Denn er sei ausgerechnet bei Citroën beschäftigt. In einem kleinen Citroën starben Jaqueline und Riccardo. „Wenn so ein Auto reinkommt, dann bin ich irgendwo, wo ich eigentlich nicht hingehöre, aber weg von dem Wagen“, sagt der Vater.

Er hatte sich vorgestellt, dass Jaqueline und Riccardo heiraten würden. „So hätte ich sie viel lieber gesehen als auf der Beerdigung“, fügt er hinzu. 500 Freunde und Bekannte seien gekommen zur Trauerfeier. Kumpels von Riccardo, dem Pfadfinder und Fußballtrainer, gaben den Eltern einen Brief mit. Die Richterin las vor, was sie zu sagen haben: Ein Kumpeltyp, der überall gut ankam und mit seiner fröhlichen Art alle ansteckte. Bei diesen Zeilen kommen auch dem 21-jährigen Angeklagten, dem Jaguar-Fahrer, die Tränen.

Hintergrund

Rückblick: Der damals 20 Jahre alte Angeklagte mietete am 6. März einen Jaguar F-Type R mit 550 PS bei einer kleinen Firma in Nürtingen. Mit dem Wagen fuhr er in Stuttgart und der Umgebung umher. Am späten Abend wollte er eigentlich schon heimgehen, als ihn ein Kumpel zu einer letzten Tour überredete – um ein Video für Instagram zu drehen. Der Jaguar-Fahrer willigte ein, und auf dieser Tour geschah wenige Sekunden nach dem Start der fatale Unfall: An der Rosensteinstraße verlor der junge Mann bei Tempo 168 die Kontrolle und schleuderte gegen den Kleinwagen eines Paares. Die beiden waren sofort tot. Der Jaguar-Fahrer und sein Beifahrer blieben unverletzt.

Prozess: Das Verfahren gegen den 21-Jährigen ist der erste Mordprozess gegen einen Raser an einem Landgericht in Baden-Württemberg. Es sind 16 Termine bis zum 15. November angesetzt. Die Beweisaufnahme soll bis zum 25. Oktober laufen. Da der Angeklagte zur Tatzeit 20 Jahre alt war, verhandelt eine Jugendkammer.

Vorwurf: Der 21-jährige Angeklagte muss sich wegen Mordes vor dem Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit seiner Fahrweise billigend in Kauf genommen zu haben, dass Menschen bei einem Unfall schwer verletzt werden oder ums Leben kommen. (ceb)