Das an einem Felsen zerschellte Holzboot der Geflüchteten Foto: dpa/Antonino Durso

In Italien ist ein Streit darüber entbrannt, ob das Drama vom Sonntag in Kalabrien mit mindestens 66 toten Geflüchteten hätte verhindert werden können. Der italienische Innenminister beschuldigt die Flüchtlinge.

Die 66 Särge der bisher geborgenen Toten sind in Reih und Glied in der großen Sporthalle der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone aufgestellt worden. Auf jedem liegt ein Kranz mit Blumen. Auch mehrere weiße Kindersärge sind darunter; auf einen von ihnen hat jemand einen kleinen Spielzeuglastwagen gestellt. Die Bilder werden vom Fernsehen in allen Nachrichtensendungen in die Wohnzimmer Italiens übertragen und prangen auf den Frontseiten der Zeitungen – ein Mahnmal und auch eine unausgesprochene Anschuldigung: Warum hat diese Menschen, warum hat diese Kinder niemand gerettet?

Genau dieser Frage geht der Staatsanwalt von Crotone nach, der eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet hat. Auch im Parlament in Rom gab es dazu schon eine Anhörung. Fest steht schon jetzt, dass es keinen Rettungsversuch gegeben hat: Ein Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat das Flüchtlingsboot zwar schon am Abend vor dem Unglück gesichtet, und die Aufnahme einer Wärmebildkamera legte nahe, dass sich zahlreiche Personen an Bord des Schiffs befanden. Weil sich das Boot aber noch nicht in Seenot befand, avisierte die Frontex-Crew nicht die Küstenwache, sondern die Finanzpolizei, die zwei Schiffe losschickte. Das Ziel der Aktion bestand aber nicht darin, die Flüchtlinge zu retten, sondern den Gesetzen zur illegalen Einwanderung Achtung zu verschaffen.

Windstärke 8, vier Meter hohe Wellen

Wegen der widrigen Witterungsverhältnisse – Windstärke 8, vier Meter hohe Wellen – schafften es die beiden Schiffe nicht, das Flüchtlingsboot zu erreichen, und kehrten in ihre Häfen zurück. Auf den Gedanken, dass ein Seegang, der selbst die modernen Schnellboote der Finanzpolizei überfordert, auch einen überladenen, hölzernen Fischkutter in Schwierigkeiten bringen könnte, kam offenbar niemand. Die Küstenwache, die über für die Rettung von Schiffbrüchigen ausgerüstete Boote verfügt, blieb untätig. Sie kam erst, als das Flüchtlingsboot hundert Meter vor dem Strand der Kleinstadt Cutro zerschellt war. Die Küstenwache konnte nur noch mithelfen, die an den Strand gespülten Toten aus der Brandung zu tragen.

Die Opposition und Vertreter der Kirche wie der Bischof von Palermo machten umgehend die restriktive Migrationspolitik der Rechtsregierung von Giorgia Meloni und die Untätigkeit der EU für das Drama verantwortlich. Im Zentrum der Kritik stehen der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi, der mit einem Dekret die Arbeit der privaten Seenotretter massiv eingeschränkt hat, sowie Lega-Chef Matteo Salvini, der als Infrastrukturminister für die Küstenwache zuständig ist. Die beiden Hardliner geben den Takt an bei der Migrationspolitik – und waren schon früher ein Team gewesen: Als Salvini 2018 bis 2019 Innenminister war und die „Politik der geschlossenen Häfen“ einführte, war Piantedosi sein Kabinettschef.

Politik der Kriminalisierung der Migranten

Piantedosi wies jede Kritik zurück und machte die Flüchtlinge verantwortlich. Er warf den Toten Verantwortungslosigkeit vor: „Sie hätten bei diesem Wetter nicht losfahren dürfen. Die Verzweiflung rechtfertigt es nicht, dass man seine eigenen Kinder in Gefahr bringt“, so der Innenminister. Mehr Ignoranz gegenüber den Fluchtursachen und weniger Empathie angesichts der 66 Särge in Crotone sind kaum noch vorstellbar.

Letztlich ist die Regierung von Giorgia Meloni mit ihrer Politik der Kriminalisierung der Migranten und der privaten Retter bereits gescheitert: Die Zahl der in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge hat sich in den ersten zwei Monaten des Jahres nicht wie im Wahlkampf versprochen reduziert, sondern gegenüber dem Vorjahr auf über 14 000 fast verdreifacht.