Gabriel Hofmann – im Foto links mit Lebenspartnerin Claudia – wurde als Frau geboren, lebt seit 2019 offiziell als Mann und arbeitet als Fitnesscoach in Bad Waldsee. Foto: StZ Magazin/Lena Giovanazzi

Das Recht aller Menschen, selbst über ihr Geschlecht zu entscheiden, ist kaum noch umstritten. Aber wie geht das Leben für Transmenschen weiter, wenn sie ihr Ziel erreicht haben?

Berlin/Stuttgart - Links trägt Gabriel Hofmann eine Art lustiges Seemannstattoo. In der Armbeuge, ein Pin-up-Girl im Cartoon-Stil, wie Jungs es sich auf Abifahrt nach vier Runden Kleiner Feigling stechen lassen. Rechts, auf dem Rücken seiner Hand, steht sein Name. In Schreibschrift, als hätte er sich selbst signiert.

„Das hab ich mir für meine Mutter tätowiert“, sagt Hofmann, lacht, geht hinter zur Küchenzeile, um sich noch einen Kaffee zu holen. Die Mutter hatte lange Zeit immer noch Eva zu ihm gesagt, aus Gewohnheit. Eva, den Namen, den sie ihm vor 40 Jahren gegeben hatte, als er als Mädchen zur Welt kam. Und den Gabriel Hofmann ablegte, als er 2019 nicht nur tendenziell, sondern ganz offiziell ein Mann geworden war. Irgendwann ließ er sich das Tattoo stechen. Als Spickzettel für Mama: Gabriel!

So verwirrend, wie viele sagen, ist es am Ende nicht

Tätowierungen kann man weglasern – mit Geschlechtsmerkmalen ist es schwieriger. Dass viele Menschen dieses Projekt trotzdem anpacken, ihre Identität ändern, den Körper teils oder ganz von Frau zu Mann oder Frau zu Mann verwandeln lassen – das allein ist 2020 zum Glück keine News mehr. Belastbare Zahlen gibt es nicht, aber die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität schätzt, dass in Deutschland 60 000 bis 100 000 Menschen leben, die nicht mehr dem Gender-Standard folgen, den die Hebamme zur Begrüßung in ihre Geburtsbescheinigung schrieb.

Dazu gehören nicht nur Transsexuelle wie Gabriel Hofmann. Viele wechseln ihr Geschlecht, aber lassen den Körper wie er war. Andere lehnen alle Zuweisungen ab, wollen weder Frau noch Mann sein. So verwirrend, wie viele sagen, ist es am Ende nicht.

Sichtbarer und selbstbewusster

Und trotzdem gibt es derzeit viel zu streiten und auszuloten, wenn es ums Thema Transgender geht. Mehr denn je. Wahrscheinlich liegt das daran, dass Menschen mit nicht-traditionellen Einstellungen zu Geschlecht und Sex heute immer sichtbarer und selbstbewusster auftreten können. Und dass so nicht nur die erwartbare, eher konservative Kritik an einigen ihrer Positionen zunimmt. Sondern auch die Gegenrede von denen, die man eigentlich im selben interessenpolitischen Café verortet hätte.

Ein paar der prominenteren Beispiele: „Harry Potter“-Autorin Joanne K. Rowling, die sich als Feministin sieht, spottete in einem Twitter-Beitrag über die fein nuancierte Unterscheidung zwischen biologischen und nicht-biologischen Frauen – und bekam dafür einen überdimensionalen Shitstorm ab. Als die Freiburgerin Giuliana Farfalla als erstes Transmodell überhaupt aufs Cover des deutschen „Playboy“ kam, kommentierte die ebenfalls als Sexy-Model bekannte Stuttgarterin Ramona Bernhard, das Magazin sei nun „echt langsam eklig“. Der berüchtigte Tübinger Stadtchef Boris Palmer wiederum brach eine ganz andere Grundsatzregel: In einem öffentlichen Schlagabtausch, den er auf Facebook mit seiner Stuttgarter Grünen-Parteigenossin Maike Pfuderer führte, ließ er ohne Not den Namen fallen, den Pfuderer vor ihrer 2005 abgeschlossenen Geschlechtsumwandlung getragen hatte. Sie zeigte für dieses sogenannte Deadnaming Palmer sogar an, berief sich auf einen Paragrafen im Transsexuellengesetz, das Offenbarungsverbot. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen schnell ein.

Genderpolitik in Bad Schussenried

„Natürlich finde ich es toll, dass zur Zeit all die Debatten über Identitätspolitik und Gendersprache geführt werden“, sagt Gabriel Hofmann. „Trotzdem werden bestimmte Dinge dadurch eben noch komplizierter, die auch so schon kompliziert genug sind. Da, wo wir wohnen, kapieren viele Leute noch nicht mal die einfachsten Sachverhalte.“

Er sitzt beim zweiten Frühstück in der Wohnung seiner Lebensgefährtin Claudia: Bad Schussenried, knapp 9000 Einwohner, von Ulm aus eine Dreiviertel-Bundesstraßen-Stunde entfernt. Die Balkontür steht auf, im Garten windet es durch die Bäume. Dass Genderpolitik hier draußen noch etwas anders verhandelt wird als auf Twitter oder in den urbanen Hot Spots, kann man sich denken.

„Ist die jetzt zur Kampflesbe geworden?“

Den Beruf sieht man Hofmann an den Bizepsen an: Er ist Fitnesscoach im benachbarten Bad Waldsee. Der Sport, sagt er, habe ihm das Leben gerettet. In München aufgewachsen, kämpfte er schon als Teenagermädchen mit dem Problem, das er nicht benennen konnte. Litt unter depressiven Schüben, Essstörungen, war ab 16 in Therapie. Als er 2007 mit dem damaligen Ehemann nach Oberschwaben zog, entdeckte er das Laufen. Trainierte sich in sechs Monaten zum ersten Marathon, lief den knallharten Zugspitz-Ultratrail in 20 Stunden. „Beim Laufen bekam ich endlich den Blick dafür, was mit mir los war“, sagt er. Er merkte, dass er nicht wirklich eine Frau war. Dass er das Thema angehen musste.

„Ich weiß noch, wie ich Gabriel eines Tages vor der Eisdiele stehen sah“, erzählt Claudia. „Ich kannte ihn ja als Eva, und im ersten Moment dachte ich: Ist die jetzt zur Kampflesbe geworden?“ Über Umwege wurde sie seine erste Trainingsklientin. Claudia, damals verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, fand Gabriels Story toll, und nicht nur die. Seit Frühjahr 2020 sind die zwei ein Paar.

Geschlechtswechsel offensiv publik gemacht

Freundinnen fragen heute noch hilflos, ob sie jetzt lesbisch sei. „Ich bleibe immer ganz ruhig und antworte: ,Ich gehe ja nicht mit Frauen ins Bett.‘“ Und dann frotzelt sie rüber zu ihrem Freund, der sich das Lachen kaum noch verkneifen kann: „Wobei mir deine Brüste gut gefallen haben, bevor sie weggemacht wurden. Meine Kuschelkissen.“

Es ist ein oft noch sehr elementarer Genderdiskurs, der hier in Wohngebieten und Braugasthöfen geführt wird, auf Stadtfesten, beim Wein nach dem Sport. Aber: Transidentität ist 2020 auch im ländlichen Oberschwaben ein fulminantes Thema. Da gibt es die Geschichte vom Schreinermeister, der beim Maibaum-Aufstellen plötzlich als Frau vor die versammelte, völlig verdatterte Mannschaft trat. Und von der Transfrau, die von Nachbarn Feuerwerkskörper in den Garten geschossen bekam und tätlich angegriffen wurde, bis sie lieber im Auto übernachtete. Deshalb hat Hofmann seinen Geschlechtswechsel offensiv publik gemacht. Damit Leute, vor allem junge, ihn als Ansprechpartner erkennen. Damit er sein Wissen teilen kann. „Ein 16-Jähriger, mit dem ich in Kontakt bin, hat seinen Endokrinologen jetzt zum vierten Mal um einen Hormonblocker gebeten, um mal etwas zur Ruhe zu kommen“, sagt er. „Er wurde wieder heimgeschickt. Viele Ärzte sagen dir heute noch, du sollst deinen Körper doch einfach annehmen. Ich wäre an der Haltung fast gestorben.“ Claudia trägt heute übrigens ab und zu das graue Seidenkleid, das Gabriel zu seiner Hochzeit trug. Als sie es zum Spaß anprobierte, passte es perfekt.

„Seit meiner Kindheit werde ich mit Normvorstellungen konfrontiert“

Zurück in die Stadt, zurück nach Stuttgart-Süd. Den Saal des Theaters Rampe in Nähe des Marienplatzes betritt man durch einen goldenen Vorhang, es fühlt sich an – so kitschig einem der Gedanke auch gleich vorkommt – wie der Schritt durch ein Portal in eine andere Welt. Fender Schrade, Performancekünstler, Musiker, Medieningenieur und noch vieles andere, führt das sechs Meter lange Herzstück sein neues Stück vor: Ein spezielles Musikgerät, zusammengebaut aus mehreren Keyboards, schwebt über einem Teppich, auf dem Tiere zu sehen sind. Schnecken, Seepferdchen, Hyänen. Alles Wesen, die kein genormtes Sex- und Beziehungsleben führen. Bei denen auch mal die Männchen die Nachkommen großziehen. Oder gleich selbst gebären.

„Norm ist Fiktion #5/1“ heißt das Stück, aber, nun ja: Wie nicht-fiktional, wie real wird die Norm in fast 50 Lebensjahren denn trotzdem? „Seit meiner Kindheit werde ich mit Normvorstellungen konfrontiert“, sagt Schrade. „Es ging schon damit los, dass ich rote Haare habe.“ Worte für sein Anderssein fand er als Kind noch nicht.

Keine Vorbilder oder positive Entwürfe

Schrade, Jahrgang 1972, wuchs im Raum Ludwigsburg auf. Eine verstörende und intensive Zeit war das, erzählt er und holt tief Luft. Vorbilder oder positive Entwürfe für die Existenz zwischen den Geschlechternormen gab es in den 80ern für ihn keine, Ansprechpartner schon gar nicht. Das Coming-out als Mann im Frauenkörper hatte er mit Anfang 30. Der neue Vorname stand als Erstes fest. Fender, die Instrumentenmarke aus Arizona, deren Label auf seinem E-Piano stand, wurde zum Taufpaten.

Der Rundgang durch die Theaterwerkstatt geht weiter. Schrade tippt auf die Tasten seines riesigen Pianos und erklärt, wie für ihn am Ende die Kunst zu dem großen Katalysator der Erkenntnis wurde, der für Gabriel Hofmann der Sport war. „Schon in meinem vierten Lebensjahr war Musik der Raum, in dem ich Sachen sagen konnte, für die ich sonst keine Worte oder Bilder hatte“, erzählt er, während Beats und Naturlaute aus den Boxen klingen. Der wichtigste Anstoß: Man kann mit anderen auch kommunizieren, ohne dass dabei Körper sichtbar werden und sich in die Quere kommen müssen.

„Jetzt bin ich im Gender-Ruhestand“

Schrade brachte sich Aufnehmen und Abmischen bei. Hängte ein Medieningenieurs-Studium dran. An der berühmten MIT-Hochschule in Cambridge, Massachusetts, musizierte er mit anderen Trans-personen, das Netzwerk ist heute noch lebendig. 2013 gründete er dann mit Nana Hülsewig das Künstlerduo NAF, an der Heimatbasis Stuttgart.

Hormone und der ganze biologische Kram wurden für ihn erst relativ spät ein Thema. Von Körpertechnologien, Begutachtungen und Medizin wollte Schrade zunächst so unabhängig wie möglich bleiben: „Als Transperson führt man ohnehin ein intensives Leben, setzt sich ständig mit dem eigenen Körper auseinander. Daher war es mir immer wichtig, die Definitionsmacht über mich zu behalten.“ Im Grunde, resümiert er heute, habe er zwei Pubertäten erlebt. „Und jetzt bin ich im Gender-Ruhestand.“

„Der Staat braucht ein Update“

Da kommen sich die drei großen Komplexe Kunst, Körper und Politik dann doch wieder ganz nah. Man könnte ja durchaus zu der Ansicht kommen, nach etwas zu hastigem Twitter- oder Talkshow-Studium, dass es im Diskurs über die gesellschaftliche Position von Transmenschen vor allem um Toleranzgrenzen geht – um die Definition von Begriffen, von Verhaltensregeln, sogenannten Safe Spaces. Dabei stecken genug Forderungen darin, die nichts anderes als harte, präzise Parlamentsarbeit bedeuten. Im Juni 2020 wurde im deutschen Bundestag erstmals über neue Gesetzentwürfe von Grünen und FDP beraten, die auf die Ablösung des im Kern 40 Jahre alten Transsexuellengesetzes abzielen (siehe unten). Ein Selbstbestimmungsgesetz soll Bürokratie und medizinisch-behördliche Hürden beim Ändern von Personendaten final ausräumen. Dass Transmenschen in Deutschland bis 2011 (da kippte das Verfassungsgericht den Passus) verpflichtet waren, sich geschlechtsangleichend operieren oder sterilisieren zu lassen, um ihren Personenstand ändern zu können, ist nicht wirklich bekannt.

„Mir persönlich wäre es am liebsten, wenn Gender, Hautfarbe und Religion vom Staat überhaupt nicht mehr erfasst würden“, sagt Fender Schrade. In letzter Konsequenz gehe es ja darum, ein altes, bi-näres Menschenbild zu überwinden – und auf dem Weg dahin genügt oft eine antiquierte Behördensoftware, um den Lauf zu stoppen. „Der Staat braucht ein Update. Doch zum Glück steckt hinter jedem Computer ein Mensch, der subversiv handeln kann.“

Joseph Beuys über dem Platz

Um einen dieser Menschen zu treffen, muss man nur ein paar Minuten stadteinwärts fahren, Richtung Oberer Schlossgarten. Maike Pfuderer sitzt im Unterbau des baden-württembergischen Landtagsgebäudes, wo sich ein kleines Abgeordnetenbüro ans nächste reiht. Als Referentin kümmert sie sich hier um Input und inhaltliche Lufthoheit für die Grünen-Parlamentarierin Brigitte Lösch, die unter anderem die Queerpolitik der Fraktion verantwortet, also alles, was die Belange von Lesben, Schwulen und anderen Nicht-hetero-Communitys betrifft. An der Bürowand die Karte des Neckarwahlkreises, über Pfuderers Platz ein Foto von Joseph Beuys, seinerzeit auch ein streitbares Parteimitglied. „An der Decke draußen im Gang habe ich selbst mitgebastelt“, sagt sie so nebenbei. „Mitte der 80er, beim Stukkateurspraktikum auf dem Bau.“ Es dürfte ihr im Landtag ein gewisses Alleinstellungsmerkmal sichern.

Von Maike Pfuderer war oben schon kurz die Rede: Sie zeigte Boris Palmer an, weil er sie bei ihrem alten Männernamen nannte. „Natürlich hat es mich getroffen, dass jemand mich auf diese Art öffentlich verächtlich macht, ohne jeden Anlass“, sagt sie. „Aber der gute Zuspruch aus der Partei hat mich durchgetragen.“ Man ist ein wenig erstaunt, wenn man Pfuderer, die in der Regel keiner aufgeheizten Debatte ausweicht, in Echt trifft. Ihre im Voralb-Schwäbisch geplauderten Betrachtungen und Spötteleien strahlen Gelassenheit aus. So, als habe sie als 54-jährige, auf vielen Kanälen politisch aktive Frau mit Transgender-Hintergrund nun wirklich genug Kämpfe hinter sich, um von irgendeiner Hashtag-Schlacht aus der Ruhe gebracht zu werden.

„Zwang ist nie gut“

Sie arbeitet im Landesnetzwerk LSBTTIQ, kurz für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer. Immer noch der Test für Landtagsveteranen: Wer kriegt alle Buchstaben zusammen? „Natürlich ist es gut, dass die Commu-nity sich so weit ausdifferenziert hat“, sagt sie. „Das Schwierige ist halt, dass der größte Gegenwind immer noch aus der heteronormativen Gesellschaft kommt. Und man dagegen am besten als vereinte, starke Stimme ankommt.“ Dass sie 2020 mal mit linken Feministinnen streiten müsste, die Vorbehalte gegen Transfrauen in ihre Reihen haben, hätte Pfuderer sicher nicht geglaubt, als sie in den 80ern und 90ern die ganzen schwierigen Entscheidungen traf, die ihr heute das Leben als Frau ermöglichen. Bei der Idee vom Selbstbestimmungsgesetz sieht sie es durchaus als Dilemma, dass die begleitende Psychotherapie beim Geschlechtswechsel wohl nicht als Pflicht drinstehen wird. „Zwang ist nie gut. Aber wenn man sein Leben auf links dreht, schadet es nicht, ab und zu professionell betreut zu werden.“

„Der Status quo kann ganz schnell wieder zerbröseln“

Und so muss man ihr zum Schluss die große Frage stellen, die über der Geschichte schwebt: Wie soll es weitergehen? Wie kann man all diesen verschiedenen Menschen gerecht werden – und trotzdem verhindern, dass Genderpolitik am Ende vor allem Unterschiede zementiert anstatt zu integrieren?

„Vielleicht sind wir ja an dem Punkt, an dem neue, große Schritte gar nicht die höchste Priorität haben“, sagt Maike Pfuderer. „In den letzten Jahrzehnten haben wir wahnsinnig viel erreicht, und das müssen wir nun auch vernünftig verteidigen und denen plausibel machen, die es noch immer nicht kapiert haben. Es muss allen klar sein, dass der transgeschlechtliche Status quo auch ganz schnell wieder zerbröseln kann, wenn wir nicht aufpassen.“