Paula Beifus und ihr Mann Bernhard lebten 30 Jahre in Stuttgart. Er starb 1940 in Stuttgart, sie wurde 1943 in Auschwitz getötet. Foto: Privat

Paula Beifus und ihr Mann Bernhard sehnten sich wie viele Stuttgarter heute auch nach einem schönen Zuhause auf der Halbhöhe. 1938 vertrieben die Nazis die Familie aus ihrem Architektenhaus und ermordeten Paula Beifus 1943 in Auschwitz. Aus der Serie „Stuttgarter Stolpersteine - Die Menschen hinter den Namen“.

Ein Haus ohne Klingelschild. Die in die hölzerne Eingangstür eingelassenen Glasflächen sind abgedeckt, es gibt auch keinen Türknauf mehr. Aber es brennt Licht auf einigen Etagen des sorgsam sanierten Mehrfamilienhauses von 1897. Gespenstisch. Und auf eine gewisse Art passend für die Geschichte des Hauses, das nur einen Steinwurf vom Feuersee entfernt im Stuttgarter Westen in der Hermannstraße 16 steht. Mittlerweile gehört es zum Klett-Verlag, weshalb die Mitarbeiter übers Firmengelände ins Haus finden.

Den ehemaligen Bewohnern des Hauses hätte man metaphorisch gesprochen ebenso eine zugangslose Eingangstür gewünscht, und einen geheimen Aus- und Eingang. Gemeint sind jene Mieter, die in während der NS-Zeit dort lebten und die von den Nationalsozialisten gezwungen wurden, das Haus zu verlassen, sich auf Sammelplätzen einzufinden, von wo aus sie in den Tod geschickt wurden. Der Stuttgarter Unternehmer Albert Levi etwa, der von 1931 bis 1941 im dritten Stock des Hauses lebte. Ein Stolperstein erinnert an seine Deportation 1941 nach Riga und an seine Ermordung.

In der Hermannstraße 16 in Stuttgart lebte die Familie Beifus von 1917 bis 1930. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski/STZN

Die Wohnung übernommen hatte Albert Levi von einem jüdischen Ehepaar Bernhard und Paula Beifus. Paula Jonas, am 29. November 1888 in Hedesdorf, Rheinland-Pfalz, geboren und Bernhard Beifus, am 15. Dezember 1869 in Laasphe in Westfalen auf die Welt gekommen, heirateten 1912 in Neuwied und siedelten bald schon nach Stuttgart um. Bernhard Beifus, der sich beruflich dem Vertrieb von Baumwollwaren und Trikotagen widmete, seine Gattin Paula und die vierjährige Tochter Hilde zogen 1917 in den dritten Stock des Hauses. Bis 1930 lebten sie dort.

Alte Bilder zeigen, dass die Hermannstraße damals schon zu einem ganz guten Wohngebiet gehörte. Doch schon in den 1920ern zogen jene, die es sich leisten konnten, auf die zu jener Zeit noch deutlich weniger eng bebauten, grünen Halbhöhen der Stadt. Auch die Familie Beifus.

Foto von der Hermannstraße 1942 mit Blick auf den Feuersee. Foto: Stadtarchiv/Stuttgarter Zeitung

Es waren offenbar architekturaffine Menschen, womöglich waren sie, wie so viele andere Besucher 1927 durch die frisch errichtete Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg geschlendert, wo Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier, Richard Döcker, Hans Scharoun und Mart Stam ihre Ideen für das Neue Bauen realisiert hatten.

Flachdach, weißer Putz, schnörkellos, große Dachterrassen, viel Luft und Licht. Architekt Richard Döcker brachte das neue Bauprogramm auf den Punkt: „Das Freie wird hereingezogen durch große Fenster, Veranden oder Terrassen – das Leben und Wohnen will ins Freie – Freiheit.“

Die Beifus’ fanden daran offenbar Gefallen. Bernhard Beifuß kaufte ein Grundstück in der Gaußstraße 95, um sich dort so ein der Avantgarde verpflichtetes Heim bauen zu lassen. Das Ehepaar engagierte ein renommiertes jüdisches Stuttgarter Architekturbüro Bloch & Guggenheimer. Die Architekten Oscar Bloch und Ernst Guggenheimer hatten zu Beginn ihrer Karriere auch noch Häuser im historistischen Stil gebaut, aber rasch auch begonnen, im Stil der Bauhaus-Architektur zu entwerfen.

Am 18. Dezember 1929 reichte das Architekturbüro das Baugesuch ein, hat der Stuttgarter Architekturhistoriker Dietrich W. Schmidt in seinem Buch über „Bloch & Guggenheimer. Ein jüdisches Architekturbüro in Stuttgart“ recherchiert. Bernhard und Paula Beifus werden sicher gelegentlich an einem freien Tag über den Feuersee hinüber und hinauf zum Hölderlinplatz und von da zur Gaußstraße hinaufspaziert – oder gefahren – sein, um den Fortschritt der Bauarbeiten zu begutachten.

Am begrünten Hang hinter Bäumen – das Haus in der Gaußstraße 1942 im Stuttgarter Westen aufgenommen. Foto: Stadtarchiv

Das etwas unterhalb des Kräherwaldes an einem Hang gelegene Flachdachgebäude verfügte über Balkons und eine große Dachterrasse sowie über ein von der Straße aus schon zu sehendes, hohes schmales Fensterband an der Eingangsseite. Nicht einmal ein Jahr dauerten die Bauarbeiten. Die Karte zeigt, wo das Haus in Stuttgart steht:

1930 bezogen die Beifus’ das moderne Haus, die Nachbarn in ihren traditionellen Häusern mit Sattel- und Walmdach werden nicht schlecht gestaunt haben. Teenager Hilde bewohnte das Zimmer im Erdgeschoss, das zur Gaußstraße hinaus zeigt, paukte dort für ihr Abitur 1933 am Königin-Olga-Stift im Stuttgarter Westen.

Paula Beifus’ Tochter Hilde wurde 1913 geboren. Sie starb 1959 mit 45 Jahren in Israel. Foto: Privat

Lange erfreuen konnte sich die Familie am neuen Haus in guter Lage nicht. Nach dem die Nationalsozialisten an die Regierung kamen, bekamen Menschen jüdischen Glaubens schon bald Repressionen zu spüren. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, jüdische Bürger schikaniert.

„Ende 1938, wenige Wochen nach der Reichspogromnacht, in der neben den Synagogen auch zahlreiche jüdische Läden verwüstet wurden, musste das Ehepaar Beifus ihr Haus in der Gaußstraße, in dem sie acht Jahre gelebt hatten, für weit unter Wert verkaufen“, hat die Autorin Susanne Stephan von der Stolperstein Initiative recherchiert. Der neue Besitzer war ein Kaufmann aus Kirchheim.

Die Beifus-Familie sollte das „deutsches“ Dach zahlen

Mit dem fortschrittlichen Bauen war es zu der Zeit auch vorbei. Der Widerstand gegen moderne Architektur vermengte sich hier mit antisemitischem und rassistischem Affekt, wie auch bei der Diffamierung der Weißenhofsiedlung als „Vorstadt Jerusalems“ und „Araberdorf“. Auch das Haus in der Gaußstraße war davon betroffen.

Architekturhistoriker Schmidt, der die Bauakten studiert hat, schreibt, das Gebäude „sollte in ein unauffälliges Walmdachhaus verwandelt werden, das sich der Umgebung – wie der Volksgenosse der Volksgemeinschaft – unterordnete.“ Für diese ideologisch motivierten Umbaukosten für ein „deutsches“ Dach sollten die Beifus’ – man fasst es kaum – nachträglich auch noch 2000 der 5000 Reichsmark übernehmen.

Den Erlös aus dem Zwangsverkauf zog der nationalsozialistische Staat zum großen Teil als sogenannte Judenvermögensabgabe ein. Auch aus dem Umzugsgut, das Paula und Bernhard Beifus nach Jerusalem schickten, um ihrer bereits emigrierten Tochter Hilde zu folgen, wurden zahlreiche Wertgegenstände beschlagnahmt. Der Beginn des Krieges am 1. September 1939 machte eine Emigration unmöglich.

Das Ehepaar Beifus zog 1938 zunächst in die Werastraße in Stuttgart Ost, dann wieder in den Westen, in ein heute unter Denkmalschutz stehendes Gründerzeithaus in der Hölderlinstraße 51 schräg gegenüber der Russischen Kirche. Ab Dezember 1939 waren jüdische Bürger gezwungen, sich in jüdischem Hausbesitz einzumieten, sogenannten Judenhäusern.

Paula Beifus war ab 1940 Witwe, und sie musste in ein sogenanntes Judenhaus ziehen. Foto: privat

Nach dem Tod von Bernhard Beifus am 2. Oktober 1940 war Paula Beifus ganz auf sich gestellt, die Tochter Hilde war ja schon emigriert. „Sie musste in die Rosenbergstraße 144 umziehen“, hat Susanne Stephan recherchiert, „später in ein von der Gestapo kontrolliertes Haus in der Hospitalstraße 34. Sie engagierte sich in der jüdischen Restgemeinde und ist vermutlich in dem 1941 gedrehten Film über den sogenannten Judenladen in der Seestraße zu sehen. Zu den wenigen Kontakten, die ihr noch möglich waren, gehörte der Architekt ihres Hauses, Ernst Guggenheimer.“

Wie durch ein Wunder war er von einem NS-Arzt für transportunfähig erklärt und nicht deportiert worden, Stuttgarter Bürger versteckten ihn, er überlebte den Naziterror und gründete nach 1945 in Stuttgart wieder ein Architekturbüro, baute auch die neue Synagoge in Stuttgart. Schmidt: „Er arbeitete auch als Treuhänder für jüdische Immobilienbesitzer, die aus Stuttgart vertrieben worden waren.“ Auch die Nachkommen der Familie Beifus stellten einen Wiedergutmachungsantrag. Hilde Franken erhielt nach dem Krieg einen finanziellen Ausgleich für das Haus.

Der Stolperstein für Paula Beifus wurde 2023 verlegt. Foto: Lichtgut/ Leif Piechowski

Paula Beifus musste am 1. März 1943, also vor genau 81 Jahren, ihr letztes, sicher auch schon unwirtliches Zuhause in der Hospitalstraße verlassen und sich am Stuttgarter Nordbahnhof einfinden. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und vermutlich sofort ermordet. Sie starb mit nur 54 Jahren. Inzwischen erinnert ein Stolperstein vor dem Haus an das Schicksal von Paula Beifus und ihrer Familie. Angestoßen wurde die Verlegung von den Nachfahren in Israel.

Denn Paula Beifus Tochter Hilde konnte rechtzeitig emigrieren. Dennoch erreichte sie nicht einmal das Alter ihrer Mutter. Statt sich nach dem Abitur 1933 frohgemut ins Leben zu stürzen, wurde ihr als Jüdin das Jurastudium verwehrt. Sie ging nach Brüssel. „Sie hatte sich zur Fotografin ausbilden zu lassen und lernte dort ihren späteren Ehemann Fritz Franken kennen, mit dem sie 1935/36 nach Palästina emigrierte, wo zwei Töchter geboren wurden“, sagt Susanne Stephan.

Seitliche Ansicht des Wohnhauses in der Gaußstraße 95. Foto: NG/Schanze

Im Jahr 1950, ein einziges Mal noch, war sie nach Stuttgart zurückgekehrt, um einen Grabstein für ihre Eltern auf dem Pragfriedhof errichten zu lassen. 1959 starb Hildes Ehemann mit 59 Jahren bei einem Verkehrsunfall, wenige Monate später nahm sich Hilde Franken das Leben. Sie wurde nur 45 Jahre alt.

Viele Jahre später fragte eine von Hilde Frankens Töchtern, Shula Engelhard, bei der Initiative Stolperstein an, ob für ihre Großmutter Paula ein Stolperstein verlegt werden könne. 2023 war es so weit. Die Veranstaltung fand vor dem Haus in der Gaußstraße statt, das kein Walmdach trug, sondern äußerlich fast wie 1930 aussah. Offenbar hat der Beginn des Zweiten Weltkriegs den absurden Walmdachumbau verhindert.

Paula Beifus’ Enkelin Shula Engelhard brachte zur Stolperstein-Verlegung ein Foto ihrer Großmutter mit nach Stuttgart. Foto: Lichtgut/Leif-Hendrik Piechowski

Vor rund 15 Jahren hatte das Haus den Besitzer gewechselt, der Bauherr ist dem Neuen Bauen zugeneigt und hat das Haus, das nicht unter Denkmalschutz steht, von dem Stuttgarter Architektenbüro Dorner und König sanieren lassen. „Wir haben dabei so viel erhalten wie möglich“, sagt der Architekt Axel Dorner.

Die Familie reiste aus Israel an

Am 15. März 2023 fand die Verlegung des Stolpersteins durch Gunter Demnig für Paula Beifus statt. Schülerinnen und Schüler des Stuttgarter Olga-Stifts hielten Blumen in Händen, die Familie, Enkelinnen, Urenkel, waren aus Israel und aus Berlin angereist. „Es war eine eindrucksvolle Veranstaltung“ , sagt Susanne Stephan. Die Enkelin Shula Engelhard hielt ein Foto ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt hatte, ihre Schwester Maya trug ein Gedicht auf hebräisch vor, bevor Gunter Demrich den Messingstein auf dem Weg vor dem Haus mit der Nummer 95 verlegte.

Bis heute mutet das Gebäude mit seinem Flachdach und der Dachterrasse und dem schmalen vertikalen Fensterband fortschrittlich, modern, zeitgemäß an. Ein Haus ist eben nicht nur ein „Häusle“. Es zeugt von Haltung, erzählt Zeitgeschichte. Der Stolperstein und auch der Erhalt des Gebäudes sind wichtige Zeichen der Erinnerung an eine Stuttgarter Familie und ihr grausames Schicksal.

Alle Beiträge zu den bisher erschienenen Porträts zur Serie finden Sie hier unter stuttgarter-zeitung.de/stolpersteine.de

Info

Initiative Stolperstein
Für Auf Stuttgarts Gehwegen erinnern mehr als 1000 Stolpersteine an Menschen, die von den Nationalsozialisten entrechtet, verfolgt,deportiert und in vielen Fällen ermordet wurden. Dank der Recherchen der Initiative „Gegen das Vergessen: Stolpersteine für Stuttgart“ kennen wir die Geschichte der Menschen jetzt besser, deren Namen auf den Stolpersteinen verewigt sind. Vorgestellt werden sie auch in der Serie „Stuttgarter Stolpersteine - Die Menschen hinter den Namen“

Stuttgart 1942
Für„Stuttgart 1942“ verarbeitet unsere Zeitung seit dem Projektstart im Jahr 2020 rund 12 000 Bilder aus dem Stadtarchiv. Auch die alten in diesem Text gezeigten Fotos der Straßen und Häuser stammen aus dem Archiv. Die systematisch vom ganzen Stadtgebiet aufgenommenen Fotos zeigen, wie Stuttgart vor 80 Jahren aussah. Im Suchfeld können Sie die Bilder nach Straßennamen durchsuchen, und Sie finden interessante Geschichten aus dem Leben in Stuttgart 1942. www.stuttgarter-zeitung.de/stuttgart-1942