Der Leiter des Amtes für Stadtklimatologie Ulrich Reuter ist der Feinstaub-Experte im Rathaus. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Roland Böhm

Stuttgart - Wenn er den Daumen senkt, müssten die Stuttgarter eigentlich die Luft anhalten. Ulrich Reuter ist Stadtklimatologe. Er weiß, wie mies die Luft im Kessel sein kann. „Das ist vergleichsweise locker.“ Die Hänge rund um den Stuttgarter Kessel sind tatsächlich nicht so eng bebaut, wie es die hohen Immobilien- und Bodenpreise vermuten lassen, sagt Reuter auf dem Dach eines Bürogebäudes mittendrin. „Und dass die Hänge so grün bleiben, ist immens wichtig.“ Der Kessel brauche frische Luft - und die ströme von den Fildern die Hänge runter. Es sei denn, dort wird gebaut.

Der Mann mit dem grauen Schnauzbart ist Meteorologe. Aber nicht irgendeiner: Als Leiter von Deutschlands einziger Abteilung für Stadtklimatologie ist er auch Herr über den Feinstaubalarm in der Schwabenmetropole, der seit Monaten bundesweit Schlagzeilen macht. Außer Stuttgart hat keine deutsche Stadt ein solches Team, zwölf Mitarbeiter gehören dazu.

Bereits 1938 beschloss der Gemeinderat die Anstellung eines Meteorologen, um die speziellen klimatischen Verhältnisse in Stuttgart in den Blick zu nehmen. Das Problem: Die Innenstadt liegt in einem dicht bebauten Talkessel, der fast vollständig von einem Höhenkranz umgeben ist. Zudem schirmen auch Schwarzwald, Schurwald, Schwäbische Alb sowie das Strom- und Heuchelberggebiet die Stadt großräumiger ab. Das bringt zwar viel Sonnenschein und Wärme - aber eben auch besonders wenig Wind. Neue Gebäude müssen mit Bedacht gebaut werden. Dazwischen zu gehen, falls Bauwerke zu Lasten des Klimas gehen könnten, ist Reuters vornehmliche Aufgabe. Er hat schon Baugebiete verhindert, Höhenbegrenzungen durchgesetzt, berichtet er. Doch natürlich gebe es auch Bausünden. Nicht immer gewinne das Klima, sagt er und lächelt. Und natürlich die Ausrufung des Feinstaubalarms. Ja, er sei der, der über den Alarm zu entscheiden habe, sagt er lachend.

Die wesentlichen Daten erhält Reuter vom Deutschen Wetterdienst. Sind die Feinstaubwerte erhöht, weht kaum Wind und ist kein Regen in Sicht, der die feinsten Partikel aus der Luft waschen könnte, sind steigende Werte absehbar. Reuter überlässt es dann der Abteilung Kommunikation, den Alarm zu verkünden und die Autofahrer aufzufordern, auf Busse, Bahnen oder Räder umzusteigen. Auch die Nutzer romantischer Kamine müssen wissen, dass sie ihren Ofen aus lassen müssen. Ihnen droht sogar ein Bußgeld.

Reuter kennt alle Versuche, mit diversen Luftreinhalteplänen die Belastung der Luft mit Schadstoffen zu verringern. Ohne weitere Zufahrtsbeschränkungen für viele Dieselfahrzeuge werde Stuttgart dem Problem nicht Herr werden, ist der Experte überzeugt. „Wir rennen den Grenzwerten hinterher.“ Immer wieder würden sie verschärft, wodurch dann jeweils der Eindruck entstehe, die Luft werde schlechter. Bei den jetzt gültigen Grenzwerten sieht er nur eine Möglichkeit: „Die blaue Plakette ist die Lösung.“ Mit ihr könnten viele ältere Dieselfahrzeuge aus der Innenstadt ausgesperrt werden. Sie gelten als Hauptverursacher von Stickoxiden, die wie Feinstaub die Luft im Stuttgarter Talkessel verpesten.

Tiefes Fachwissen, Ruhe und Gelassenheit sagen sie dem Meteorologen im Rathaus nach. „Er hat maßgeblich das Instrument Feinstaubalarm mitentwickelt und ist seit Beginn quasi jedes Wochenende im Einsatz für die Stadt“, berichtet Stadt-Sprecher Sven Matis. „Er lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen - und hat auch das Ohr des Oberbürgermeisters.“ Er sei „gut für das Klima in der Stadt“.

Reuter, geboren in Solingen, in Köln aufgewachsen und in Hamburg promoviert, sorgt sich seit 1980 um das Klima in Stuttgart. Seit 2008 leitet der dreifache Vater die Abteilung. Bald ist Schluss: Im Sommer wird er 65, Ende des Jahres geht Reuter in Ruhestand. Besonders stolz ist er auf eine Gerichtsentscheidung von 2014, die das Klima in Stuttgart für die Allgemeinheit vor das Bauinteresse eines Investors stellte. Doch so gelassen wie er nun mal ist, schiebt er hinterher: „Irgendwo muss Stadt auch stattfinden dürfen.“ Es gelte abzuwägen. „Wir können ja nicht wieder eine Pferdewiese daraus machen.“

Der am vergangenen Sonntag ausgerufene Feinstaubalarm hält indes weiter an. Seine Dauer ist offen - obwohl auch am zweiten Tag die Werte vergleichsweise niedrig geblieben sind. Die Messstation am Neckartor zeigte für Montag im Mittel 40 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft, wie aus Daten der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz vom Dienstag hervorging. Der erlaubte EU-Grenzwert liegt bei 50 Mikrogramm. Die Feinstaubwerte für Sonntag waren bereits deutlich unter der erlaubten Grenze geblieben.