Die Deutschland-Tour 2021 endete in Nürnberg, diesmal fällt die Entscheidung des Etappenrennens am Sonntag auf einem Rundkurs in Stuttgart. Foto: imago/Harry Koerber

Der Sportliche Leiter Fabian Wegmann spricht über die Qualität der Deutschland-Tour und die Topografie der finalen Etappe in Stuttgart.

Die Deutschland-Tour ist nicht nur hart, sondern auch bestens besetzt. Trotzdem läuft nicht alles rund im deutschen Radsport – meint zumindest deren Sportlicher Leiter Fabian Wegmann: „Es finden hierzulande zu wenige Rennen statt.“

Herr Wegmann, Finale der Deutschland-Tour 2018 und 2022, Deutsche Meisterschaft 2021, World-Tour-Rennen der Frauen 2023 – warum zieht es den Profi-Radsport immer wieder nach Stuttgart?

Weil die Begeisterung hier riesig ist. Und das Potenzial auch.

Woran machen Sie das fest?

Zuerst mal kommen stets enorm viele Zuschauer an die Strecke. Und zugleich sehen die Stadt und die Region, dass sich mit Radsport ein großer Imagegewinn generieren lässt. Deshalb wurde die Idee entwickelt, etwas aufzubauen und jedes Jahr ein Großereignis hierher zu holen.

Dafür wird viel investiert.

Das stimmt, aber es muss auch gewollt sein: Eine Runde mitten durch die Stadt und dazu noch eine Strecke für die Jedermann-Tour abzuriegeln, das machen nicht mehr viele Großstädte. Das ist schon eine Ehre für uns.

Und die Topografie ist zudem noch ziemlich reizvoll.

Richtig. Man muss zwar aufpassen, weil Städte mit Straßenbahnen immer gefährlich sind – man darf das Feld nie in Richtung der der Gleise fahren lassen. Doch zugleich bietet Stuttgart mit seiner Kessellage die Möglichkeit, Rennen extrem schwer zu machen. Der bis zu 16 Prozent steile Anstieg am Herdweg ist schon enorm selektiv.

Ist Stuttgart die heimliche Radsport-Hauptstadt Deutschlands?

Da würde man Hamburg, Münster oder Köln unrecht tun. Aber Stuttgart gehört sicher in die erste Reihe.

Was bietet die Deutschland-Tour?

Eindeutig den mit Abstand schwierigsten Kurs seit dem Neustart 2018.

Was macht das Rennen so hart?

Schon die ersten zwei Etappen sind vor allem gegen Ende sehr anspruchsvoll, dann geht es am Samstag hinauf auf den Schauinsland. Fast zwölf Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von mehr als sechs Prozent, das ist schon eine richtige Bergankunft im Stile der Tour de France. Und schließlich gibt es zum Abschluss die drei Runden in Stuttgart mit dem Herdweg.

Hat ein Sprinter die Chance, die Deutschland-Tour zu gewinnen?

Definitiv nicht.

Wer ist Ihr Favorit?

Simon Geschke wohnt am Fuße des Schauinsland, die Etappe dort hinauf wird er sicher gewinnen wollen. Ansonsten wäre es genau das Terrain für Maximilian Schachmann und Lennard Kämna – leider sind beide gesundheitsbedingt nicht dabei.

Wie viel Qualität steckt im Peloton?

Es hat große Klasse. 14 von 18 World-Tour-Teams sind dabei, eines mussten wir sogar wieder ausladen, weil das Feld bei uns nur zu 70 Prozent aus Rennställen der höchsten Kategorie bestehen darf. Es sind große Namen wie Egan Bernal, Adam Yates, Filippo Ganna oder Romain Bardet am Start, dazu Topsprinter wie Fabio Jakobsen und Emanuel Buchmann, der beste deutsche Rundfahrer. Das kann sich sehen lassen – obwohl unsere Veranstaltung parallel zur Vuelta stattfindet.

Die Deutschland-Tour ist kein World-Tour-Rennen. Ist es das Ziel, in die höchste Kategorie aufzusteigen?

Letztlich wäre das nur eine Frage der Lizenz. Allerdings hätten wir dann den Nachteil, keine deutschen Continental-Teams mehr einladen zu können. Das würde nicht zu unserem Anspruch passen, auch dem deutschen Nachwuchs eine Plattform zu bieten.

Fährt deshalb diesmal eine deutsche Nationalmannschaft mit?

Ja. So können wir einigen großen Talenten, deren Teams nicht dabei sind, eine Startmöglichkeit verschaffen. Und in Simon Geschke haben diese jungen Fahrer einen Leitwolf, von dem sie viel lernen können. Nach seinem Auftritt bei der Tour de France, als er den Sieg in der Bergwertung ganz knapp verpasst hat, ist das ein echter Coup.

Es gab in Frankreich keinen deutschen Etappensieg, dafür schrieben Simon Geschke und Lennard Kämna positive Schlagzeilen. Wo steht der deutsche Radsport im internationalen Vergleich?

Wir haben absolute Topfahrer, es gibt sehr gute Nachwuchsleute wie Marco Brenner, der ein riesen Potenzial hat. Vor dieser Saison wurden acht Deutsche Profis in Spitzenteams, viel mehr als zuletzt. Was derzeit fehlt, sind Seriensieger wie Marcel Kittel, André Greipel oder Tony Martin.

Alle drei haben aufgehört. Geschke ist 36 Jahre alt, John Degenkolb 33. Wie schwierig ist der Generationswechsel?

Er ist zu schaffen. In Emanuel Buchmann gibt es einen Toprundfahrer. Lennard Kämna hat riesengroßes Potenzial, Maximilian Schachmann und Nils Politt auch. Man darf nur nicht den Fehler machen, immer alles an der Zahl der Siege zu messen. Dann muss uns nicht bange sein.

Wie steht es um die Zahl der Talente?

Da gibt es Klasse, aber zu wenig Masse.

Woran liegt das?

Ganz einfach: In Deutschland finden zu wenige Rennen statt, weil die Organisation immer aufwendiger wird.

Was sind die Gründe dafür?

Die Sicherheitsauflagen werden immer strenger, davon ist jedes kleine Event betroffen. Vom Aufstellen der Parkverbots- und Umleitungsschilder über Absperrgitter bis zu den Anti-Terror-Maßnahmen – das ist kaum noch zu bewältigen und zu bezahlen. Mein Vater hat früher das große Rennen in Münster organisiert, mit einem Achtel des Budgets von heute. Das ist Wahnsinn.

Und hat Folgen.

Natürlich. Das Interesse am Radsport ist extrem gewachsen, die Zuschauerzahlen an der Strecke und vor den TV-Geräten sind enorm. Sehr viele Leute fahren selbst Rad. Doch der Sport profitiert davon nicht genug. Früher konnte ich im Umkreis von 60 Kilometern um Münster jedes Wochenende drei Rennen fahren. Heute ist das komplett anders.

Im Radsport wird mehr über Corona- als über Dopingtests gesprochen. Trotzdem stellt sich natürlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Wie sehr zweifeln Sie?

Ich habe ja als Profi selbst meine Erfahrungen gemacht: Es gab damals eine Zeit, in der ich am Radsport und dessen Strukturen gezweifelt habe. Das hat sich aber verändert: Ich gehe davon aus, dass heute in keinem Team mehr flächendeckend gedopt wird.

Weil es nicht mehr gehen würde?

Fakt ist, dass der Radsport viel für seine Glaubwürdigkeit getan hat – viel mehr als andere Sportarten. Es gibt strengere Regeln und Selbstverpflichtungen. Ich bin nicht so vermessen zu sagen, dass der Radsport zu 100 Prozent sauber ist. Aber er hat momentan eines der engmaschigsten, intelligentesten Kontrollsysteme, die es gibt. Der Radsport hat sich erarbeitet, dass ihm wieder mehr Vertrauen entgegengebracht wird. Wenn es exorbitante Leistungen gibt, muss das hinterfragt werden. Aber grundsätzlich alles anzuzweifeln, das geht nicht.

Ex-Profi und TV-Experte

Profi
 Fabian Wegmann fuhr zwischen 2002 und 2016 als Radprofi unter anderem für die Teams Gerolsteiner und Milram. Sein größter Erfolg war der Gewinn des Bergtrikots beim Giro d’Italia 2004, dreimal wurde er Deutscher Meister.

Experte
 Nach dem Ende der Karriere blieb Wegmann (42) im Radsport. Er ist Sportlicher Leiter unter anderem bei der Deutschland-Tour und zudem Co-Kommentator sowie ARD-Experte bei der Tour de France.