Szene aus „Schütze Paul“ Foto: Theaterhaus/Peter Jagusch

Aus leider gegebenen Anlässen: Wollen wir die Banalität des Bösen wirklich zurück? Eine wichtige Stuttgarter Inszenierung kehrt jetzt für zwei Abende zurück ins Theaterhaus: „Der Besuch der Veranstaltung ist Dienst. Gez. Höß – Schütze Paul in Auschwitz“ von Christof Küster. Warum sich dieser Theaterabend unbedingt lohnt

Es war ein Lied, das an der Ostfront jeder deutsche Soldat kannte, sang und brüllte: „In einem Polenstädtchen, da wohnte einst ein Mädchen“ und so fort, bis das „allerschönste Kind, das man in Polen find“, als Leiche in einem Teiche schwimmt. In seiner sentimentalen Obszönität überdauerte das Soldatenlied beide Weltkriege und lebte bis 2017 sogar im offiziellen Liedgut der Bundeswehr weiter.

Aber jetzt stimmt der Chor im süßesten Innerlichkeitston das Herzschmerz-Marschlied an und – halt, stopp! „Kommandanturbefehl Nr. 30/41 Auschwitz, 7. November 1941“ mit der Mitteilung der Reichsmusikprüfstelle, „dass der Text zu ändern ist“ und „Polenstädtchen“ zum „kleinen Städtchen“ werden muss. Erneut hebt der Chor an, voller Angst vorm nächsten falschen Wort, und tatsächlich wird er vom Lagerleiter so lange unterbrochen, bis alles Polnische aus dem Lied getilgt und „Maruschka“ in „Mariella“ umbenannt ist.

Gespenstische Komik

Es ist eine Szene von gespenstischer Komik, die sich da auf der Bühne ereignet. Der ideologische Furor der Nazis schlägt sich nieder in bürokratischen Eifer, der das Grauen des Alltags bis ins kleinste Detail regelt und kontrolliert, eine Absurdität, die zum Schreien komisch wäre, hörten wir Nachgeborenen nicht die Schreie des Schreckens von Maruschka und ihren Landsleuten, die auch im richtigen Leben „ausgetilgt und ausgemerzt“ werden sollten. Hannah Arendts Befund von der „Banalität des Bösen“ hinter der Mordmaschinerie der Nazis nimmt hier Gestalt an, greif- und hörbar wie auch anderswo in der beklemmenden Inszenierung mit dem etwas umständlichen Titel „Der Besuch der Veranstaltung ist Dienst. Gez. Höß. – Schütze Paul in Auschwitz“. Regie führt Christof Küster, der das Rechercheprojekt mit seinem Ensemble sugar4t im Theaterhaus erarbeitet hat und vom Publikum vor allem eines fordert: Aufmerksamkeit, Konzentration, Ernsthaftigkeit, also Tugenden, die das Projekt selbst auszeichnen.

Es ist ein Triptychon aus Befehlen der Täter, aus Liedern der Opfer und last not least aus Briefen von Paul Küster, des Großvaters des Regisseurs. In Auschwitz III, dem Lager in Monowitz, arbeitete er als Wachposten und schrieb regelmäßig an seine Frau in Wuppertal. Sanfte, zärtliche Liebesbriefe, über die sich die Enkelkinder – es spielen: Sabine Dotzer und Paulina Pawlik, Eberhard Boeck, Torsten Hermentin und Sebastian Schäfer – mit wachsender Ratlosigkeit beugen. Wie kam unser Großvater, ein tiefgläubiger Katholik, als Wachmann ins KZ? War er bei der SS? Hat er sich an Massenmorden beteiligt? Selbst befragen konnten sie ihn nie. Schütze Paul beaufsichtigte den Todesmarsch der Auschwitz-Häftlinge ins KZ Nordhausen und starb dort am 4. April 1944 unterm Bombenhagel der Alliierten.

Davon soll der Großvater nichts gewusst haben?

Dokumente, nichts als Zeitdokumente sind es, mit denen der Abend punktet. Er macht es klug didaktisch, spielerisch sinnlich, denn noch während Paulina Pawlik auf Polnisch (und Deutsch übertitelt) die Vorrede mit den Quellenhinweisen hält, wird sie von Sabine Dotzer übertönt mit dem nächsten Befehl. Er betrifft den „Gebrauch der polnischen Sprache“, der auf „zwingende dienstliche Gründe“ zu beschränken ist. Was das sein könnte, erklären die furchtbaren Beamten auch: „Gegen Geschlechtsverkehr in zugelassenen Bordellen hat der Reichsführer-SS nichts einzuwenden.“

Außerhalb des KZs geht das Leben weiter, dort steht auch die Villa des Lagerkommandanten Höß, der mit einem Tondokument zu Wort kommt: Ob der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, auch in Auschwitz war, wollen die Richter beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg wissen. „Er hat sich den Vorgang einmal angeschaut“, sagt Höß mit dünner Stimme. Vorgang: er meint die Vergasung der Juden.

Und davon soll der sich in die Bibel versenkende Großvater nichts gewusst haben? Wieder beugen sich die erschütterten Enkel über die Briefe, suchen nach Erklärungen, trösten sich mit fadenscheinigen Entschuldigungen, von denen sie wissen, dass sie nur Mutmaßungen sind.

Reingehen!

„Vielleicht, vielleicht“ wiederholen sie im Refrain, das E-Piano begleitet sie mit einer liturgischen Melodie und macht aus ihren Worten eine Fürbitte für den Großvater, der in seinen Briefen das Grauen konsequent ausspart.

Auch im Stück kommt der ungeschönte Nazi-Terror nur indirekt vor, in Interviews mit KZ-Überlebenden auf der Video-Leinwand, aber dass die Opfer, nicht die Täter das letzte Wort haben, ist der Inszenierung wichtig. Sie siegen auch hier über die „Banalität des Bösen“ in einem Führerstaat, der ohne Untertanen freilich nicht funktioniert hätte – und diese schaurige Normalität zeigt das Ensemble um Christof Küster mit allem Nachdruck. Reingehen!

„Der Besuch der Veranstaltung ist Dienst. – gez. Höss“: Schütze Paul in Auschwitz. Zwei weitere Vorstellungen im Stuttgarter Theaterhaus am 23. und 24. 1. 2024, jeweils um 20 Uhr