Am Dienstagmorgen führte eine Stellwerkstörung am Hauptbahnhof zu Verspätungen bei der S-Bahn Stuttgart (Archivbild) Foto: imago//Arnulf Hettrich

Das „S-Bahn-Chaos“ ist in Stuttgart sprichwörtlich geworden. Den jüngsten „Chaostag“ gab es ausgerechnet am Samstag, als Gratisfahrten neue Nutzer anlocken sollten. Unsere Datenanalyse zeigt, wie oft die S-Bahn krass verspätet ist.

Der Dienstag hat wieder einmal als schlechter Tag für viele Pendler begonnen. Wegen einer Stellwerksstörung am Stuttgarter Hauptbahnhof waren einzelne Bahnen bis 60 Minuten zu spät, gegen 7 Uhr war jeder zweite Zug verspätet. Erst am Samstag musste der Regional- und Fernverkehr teilweise über das S-Bahn Gleis geleitet werden, weil eine Weiche am Hauptbahnhof defekt war. Ausgerechnet an dem Tag, der mit Gratis-ÖPNV-Nutzung neue Nutzergruppen ansprechen sollte, war schlussendlich jede vierte S-Bahn massiv verspätet.

Der Samstag war der siebte S-Bahn-„Chaostag“ im laufenden Jahr, nach vier im Dezember und einem im November 2022. Das zeigen Daten des Portals „S-Bahn-Chaos“, die unsere Zeitung erstmals nach einzelnen Tagen ausgewertet hat. Die Schwelle zum „Chaostag“ ist nach unserer Definition erreicht, wenn im Tagesschnitt weniger als 80 Prozent der Züge eine Verspätung von höchstens sechs Minuten schaffen. Dieser Wert liegt deutlich unter den rund 90 Prozent, die die S-Bahn im Monatsschnitt aktuell typischerweise schafft. In unserer Berechnung fallen Verspätungen in der Hauptverkehrszeit stärker ins Gewicht, wenn mehr Züge unterwegs sind als spätabends oder in der Nacht. So haben sich die Werte im laufenden Jahr entwickelt:

„Die Sechs-Minuten-Pünktlichkeit ist die kritischere Kennzahl“, sagt ein Ehrenamtlicher von „S-Bahn-Chaos“, der nicht namentlich zitiert werden möchte. „Da verpasst man eher einen Anschluss und dann schaukelt sich die individuelle Verspätung schnell hoch“, so der Datenexperte. Die ebenfalls ausgewertete Drei-Minuten-Pünktlichkeit ist zumindest für diesen Aspekt nicht ganz so kritisch. Dafür sind die Werte bei diesem Faktor deutlich schlechter. Im laufenden Jahr gab es schon 38 Tage, an denen weniger als 70 Prozent der Züge maximal drei Minuten verspätet waren.

Werte weiter verschlechtert

Für das gesamte Jahr 2022 hat die S-Bahn Stuttgart eine Drei-Minuten-Pünktlichkeit von 89,6 Prozent und eine Sechs-Minuten-Pünktlichkeit von 93 Prozent berichtet. Das ist deutlich schlechter als in den Vorjahren und hat im Frühjahr zu Ärger in der Regionalversammlung geführt – und zu einer öffentlichen Entschuldigung des S-Bahn-Chefs Dirk Rothenstein. Zumal sich die S-Bahn Stuttgart über das ganze Jahr gesehen zu einer Sechs-Minuten-Pünktlichkeit von 98 Prozent verpflichtet hat.

2022 lagen die Werte deutlich darunter – und sie sind in den meisten Monaten des laufenden Jahres nochmals schlechter geworden. Zahlen für einzelne Tage stellt die S-Bahn allerdings nicht bereit, weil diese den Fahrgästen „keinerlei Informationen über die Zuverlässigkeit ihrer aktuellen Fahrtverbindungen“ biete und der Regionalverband Monatswerte erwarte, so ein Sprecher.

Diese Daten gibt es nur bei uns

Und doch haben die „Chaostage“ ihren ganz eigenen Charakter. Oft kommen mehrere Störungen zusammen. Als am 8. März etwa jeder vierte Zug mindestens sechs Minuten zu spät war, brachte vormittags ein Polizeieinsatz in Bad Cannstatt die S-Bahnen aus dem Takt. Am Nachmittag sammelten sich weitere Verspätungen an. Eine Woche davor war ein Signal an der Stammstrecke gestört, was den Verkehr über mehrere Tagen lähmte.

Solche besonders unpünktlichen Tage zu identifizieren ist nur mit den vom Internetportal „S-Bahn-Chaos“ mitgeschnittenen Daten möglich. Sie stammen aus einem Online-Auskunftssystem der Bahn und erfassen im Fünf-Minuten-Takt die fahrenden Züge sowie deren Verspätung. Dieses Schaubild zeigt die Entwicklung seit Herbst 2021:

Die Streckensperrungen für den Umbau zum digitalen Bahnknoten Stuttgart haben sich insgesamt positiv auf die Pünktlichkeit seit Ende April ausgewirkt, ähnlich wie in Zeiten der Coronapandemie, als deutlich weniger Menschen Bahn fuhren. Wenn mehrere Linien nur im 30-Minuten-Takt fahren und Bahnen erst in Bad Cannstatt auf die Stammstrecke starten, führt das laut einem Bahnsprecher zu „Stabilität“. Aktuell fährt die S-Bahn laut Bahnangaben nur 81 Prozent des regulären Angebots, dadurch bauen sich Verspätungen nicht so schnell auf. Die Langfristbetrachtung zeigt jedoch, dass Verspätungen bei der S-Bahn bis zum Beginn der Sperrungen häufiger geworden sind. Ausgefallene Züge Schienenersatzverkehr kommen noch dazu, für sie gibt es aber keine öffentlichen, tagesaktuellen Daten.

Umgekehrt bringen mehr Züge das Netz an seine Grenzen. Bis zu den Sperrungen war im S-Bahn-Netz meist der 15-Minuten-Takt die Regel, öfter als alle zweieinhalb Minuten lassen sich die Züge nicht durch das Nadelöhr Stammstrecke pressen. „Bei der engen Taktung führt jede Zeitüberschreitung beim Halt einer S-Bahn zu Folgeverspätungen, die wiederum weitere S-Bahnen beeinträchtigen“, sagt ein Sprecher der S-Bahn Stuttgart. „Wir wissen, dass wir unseren Fahrgästen der S-Bahn Stuttgart zurzeit einiges zumuten“, erklärt er, und nennt unter anderem Ausfälle, Baustellen und Störungen als Gründe für „berechtigten Ärger“.

Streckensperrung nimmt Druck aus dem System

„Als wir unser Angebot vor zehn Jahren ‚S-Bahn-Chaos‘ benannt haben, waren die Pünktlichkeitswerte noch viel besser“, sagt der Ehrenamtliche des Datenportals. Er wolle niemand die S-Bahn madig machen, sondern „darauf hinweisen, dass die Entscheider etwas tun müssen“. Ein S-Bahn-Sprecher erklärt auf Nachfrage, mit neuer Digitaltechnik werde es Probleme wie die Signalstörung an der Schwabstraße künftig nicht mehr geben. Eigene S-Bahn-Gleise zwischen Hauptbahnhof und Bad Cannstatt sowie ein höheres Tempo zwischen Schwabstraße und Universität sollen ebenfalls helfen. Solange begleiten unsere Zeitung und der Ehrenamtliche von „S-Bahn-Chaos“ weiter die Verspätungen. Seit der Pandemie fährt er übrigens so gut wie nicht mehr mit der S-Bahn.

Wie wir die S-Bahn-Daten auswerten

Quelle
Das Portal „S-Bahn-Chaos“ sammelt und analysiert seit vielen Jahren Daten über das S-Bahn-Netz der Region Stuttgart. Unter anderem wird in 5-Minuten-Schritten erfasst, wie viele Züge aktuell auf welcher Linie unterwegs sind und wie viele höchstens drei oder sechs Minuten verspätet sind. Berechnet man daraus Pünktlichkeitsquoten für Monate oder Jahre, liegen sie meist leicht unter den offiziellen Werten der S-Bahn Stuttgart. Das bedeutet jedoch nicht, dass die S-Bahn tatsächlich unpünktlicher ist als offiziell berichtet, sondern kann laut den Initiatoren von „S-Bahn-Chaos“ an unterschiedlichen Berechnungsweisen liegen.

Datenanalyse
Die Pünktlichkeitsquoten ermitteln wir aus 5-Minuten-Daten von „S-Bahn-Chaos“, die bis Ende Juli 2021 zurückreichen. Dafür nutzen wir ein sogenanntes gewichtetes Mittel: Je mehr S-Bahnen zu einem Zeitpunkt im Netz unterwegs sind, desto stärker fließt die Pünktlichkeit zu diesem Zeitpunkt in den Durchschnitt eines Tages, Monats oder Jahres ein. An einigen Tagen kam es in der Vergangenheit zu technisch bedingten Lücken in der Datenerhebung.